P O R T R A I T Yuppie–Zeitung aus der Retorte

■ The Independent - Ein Porträt der neuen britischen Tageszeitung

Aus London Rolf Paasch

„ABC1, 25–45“, das ist der soziologische Ausdruck für Kopfarbeiter diesseits der midlife crisis. Streichen wir das C1 ab, dann sind wir bei der Kategorie der „Yuppies“ angelangt, jenen mitteljungen, materialistisch gesinnten Aufsteigern, die sich vor lauter Karriere keine Meinung mehr leisten können. In Großbritannien werden sie auch „Maggies Gewinner“ genannt. Seit Dienstag gibt es für „Maggies Winners“ nun auch was zu lesen: The Independant, das größte britische Zeitungsprojekt seit Menschengedenken. 200 gestandene Fleet–Street–Journalisten hatten von der traditionellen Zeitungsstraße die Nase voll und wollten endlich für ein Blatt arbeiten, dessen Linie und Charakter sie selbst, und nicht der Besitzer, bestimmen. Saatchi & Saatchi, die Werbeagentur, die Frau Thatcher 1983 zur zweiten Amtsperiode verhalf, forschte die Marktlücke aus, und schon stand das Projekt: informativ, seriös und unabhängig. Bei solchen Ausgangsbedingungen war selbst die Aufnahme des Grundkapitals von 18 Mio. Pfund (56 Mio. DM) kein Problem. Schließlich wußten die Anleger in der City von vorneherein, daß es sich beim Independent nicht um ein riskantes Experiment, sondern um die systematische Ausnutzung einer Zeitungsnische handelte. 30 Journalisten kamen von Times und Sunday Times, die unter Verleger Rupert Murdoch immer tiefer sinken; viele vom altersschwachen Daily Telegraph und einige gar vom links–liberalen Guardian: in der Mehrheit also liberal–konservative Schreiber mit dem Ideal der Parteilosigkeit. „Wir wollen so sein wie die anderen“, erklärte der Stellvertretende Auslandschef Nicolas Ashford der taz, „nur in allem ein wenig besser“. Was angesichts der britischen Presselandschaft keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. So herrscht denn bei den anderen sogenannten „Qualitätsblättern“ helle Aufregung. Der Independent will nämlich die Hälfte seiner 400.000 anvisierten Leser von den existierenden Blättern klauen. Schon seit Wochen werden Millionen in konkurrierende Anzeigenkampagnen geschsteckt, um alte Leser zu halten bzw. neue zu gewinnen. Objekt der medialen Buhlerei: der Yuppie, jenes so dynamische Wesen, das in der Woche weniger als 12,5 Stunden vor dem Fernseher hockt und dessen pekuniäres Potential sich nur über eine Tageszeitung anzapfen läßt. Und da sich die urbanen Karrieristen zwischen Business News und BMW–Anzeigen nicht allzusehr durch parteiliche Meinungssoße verwirren oder gar die Zeit stehlen lassen wollen, muß der Independent halt so sein wie er ist: gesichtslos und meinungslos, ein retortenhafter Zwitter aus Herald Tribune und Financial Times. Traditionelles Lay Out, solide Berichterstattung und zur Auflockerung eine Betriebsanleitung zur Organisation der kulturellen Verpflichtungen, wie man sie als metropolitaner Yuppie halt so hat. Was im Norden Großbritanniens geschieht, interessiert da weniger, Independent–Leser leben nämlich „südlich von Watford“, der sozio–kulturellen Wasserscheide des entzweiten Königreiches, im Ballungsraum des unter Thatcher prosperierenden Kleinbritanniens. Auf dem direkt an das Großraumbüro des Independent angrenzenden Friedhof war am Dienstagmorgen unterdessen die erste Reaktion auf die Jungfern–Ausgabe zu verzeichnen: von Daniel Defoe, über William Blake bis hin zu John Bunyan hatten sich sämtliche hier ruhenden „unabhängigen“ Denker vergangener Jahrhunderte angesichts des Yuppie–Produkts bereits im Grabe herumgedreht.