„... das Asylrecht zur Staffage degradiert“

■ Scharfe Kritik des Vorsitzenden der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, an der SPD im Zusammenhang mit den deutsch–deutschen Vereinbarungen zur Asylantenproblematik / Zülch: „Sie haben alles getan, um den Artikel 16 unserer Verfassung ganz auszuhöhlen“ Auf der „Innenpolitischen Fachkonferenz der SPD“ am 29.9.86 hat Tilman Zülch ein dort verteiltes SPD–Flugblatt zur Asylpolitik (“SPD machts möglich / DDR stoppt Asylanten–Transit“) zum Anlaß genommen, heftige Kritik an der sozialdemokraischen Asylpolitik zu üben. Die taz dokumentiert die Rede im Wortlaut sowie auch das Flugblatt (Herausgeber: Abteilung Presse des Parteivorstandes der SPD), das inzwischen aufgrund scharfer Proteste aus dem Verkehr gezogen wurde.

Die humanistischen und demokratischen Traditionen der SPD und der Arbeiterbewegung reichen zurück in eine Zeit, als beide von der Obrigkeit als politische und soziale Minderheiten diskriminiert und bekämpft wurden. Als im nationalsozialistischen Deutschland zwei sogenannte rassische Minderheiten, die Juden und die Sinti, vernichtet wurden, war auch die Sozialdemokratie zur verfolgten Minderheit geworden. Die Bewältigung des Holocaust und der nationalsozialistischen Verfolgung insgesamt darf nicht bei der Trauer um die Opfer, auch nicht bei der Anklage gegen die Schuldigen stehen bleiben. - Denn die meisten unter uns und die meisten heute lebenden Deutschen waren 1945 noch Kinder oder wurden nach Kriegsende geboren. Unsere Generation ist daher niemals wirklich auf die Probe gestellt worden. - Es sei denn, man sähe die Agitation gegen die politischen Flüchtlinge in diesen Wochen und unseren viel zu zurückhaltenden Widerspruch als eine solche, nichtbestandene Herausforderung an. Wir haben den Holocaust an den Juden zum singulären Ereignis erklärt, den Völkermord an den Sinti und Roma erst seit 1979 dank der provozierenden und zunächst als zu schrill abgetanen Aktionen der Gesellschaft für bedrohte Völker zur Kenntnis genommen. Indem wir den Holocaust in vergangene Zeiten entrücken, verspielen wir das wichtigste Vermächtnis der Opfer von gestern - den Einsatz für die Opfer von heute. Nur so konnten und können Genozide und Kriegsverbrechen der Nachkriegszeit tabuisiert, verdrängt oder bagatellisiert werden. - Algerien, Vietnam, Biafra, Kambodscha, Guatemala, Äthiopien, Irak/Iran - wer unter den Politikern ging über das bloße Lippenbekenntnis hinaus und versuchte, politisch ernsthaft den Vernichtungen Einhalt zu tun? Historische Parallelen, hieß und heißt es jeweils, dürfen nicht gezogen werden - und doch würden die Opfer von Pogromen und Vernichtungen ihr Schicksal in jedem Einzelfall als einmalig empfinden, könnte man sie noch befragen. Folterungen, Verfolgungen, Vertreibungen und Vernichtungen ereignen sich heute vor allem in der Dritten Welt. Nicht überall tragen wir Mitverantwortung. Doch gemäß unserer Verfassung, konzipiert auch von Verfolgten der NS–Zeit, gewährten wir mit dem Asylrecht den Opfern der Verfolgungen, den Flüchtlingen politisches Asyl. Als uns dieses Flugblatt Ihres Parteivorstandes vorgestern vorgelegt wurde, haben wir es zuerst für eine böswillige Persiflage des politischen Gegners oder von rechtsradikaler Seite gehalten. Doch hätten wir nicht eigentlich schon 1982 noch aufmerksamer reagieren müssen, als Ihre Partei gemeinsam mit der FDP mit dem Schandfleck des Asylverfahrensgesetzes dem „gesunden Volksempfinden“ unerträgliche Konzessionen machte, als Sie politische Flüchtlinge kasernierten, mit einem Arbeitsverbot belegten, ihre Freizügigkeit einschränkten und ihre Rechte auf Sozialhilfe re duzierten? Hätte es nicht einen Aufschrei geben müssen, wenn Flüchtlinge nur bei Lebensgefahr in Krankenhäusern aufgenommen werden durften? Es war uns schon unerträglich, als der Bürgermeister von Darmstadt vier Roma–Flüchtlingsfamilien die Wohnungen über dem Kopf von einem Bulldozer niederreißen ließ und im Stürmerstil in unflätigster Weise über diese rassische Minderheit herzog und nur wenige Sozialdemokraten Oberbürgermeister Metzger ein „Halt“ zuriefen, das dann von einem deutschen Verwaltungsgericht kam, das die Argumentation des Bürgermeisters gerichtlich als nationalsozialistische bestätigte. Und wir waren entsetzt, als im Frühsommer 1986 die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament mit ihren Stimmen den Ausschlag gab, daß die erste und umfassend dokumentierte planmäßige Auslöschung eines Volkes im 20. Jahrhundert (der Armenier) nicht verurteilt werden konnte. Jetzt ist die Führung Ihrer Partei, wie es scheint, aus der moralischen Haftung für die Vergangenheit ganz ausgestiegen. - Sie wollen das Recht auf politisches Asyl, den Artikel 16 unserer Verfassung erhalten, Sie haben aber alles getan, um ihn ganz auszuhöhlen. Der diktatorisch regierten DDR haben Sie ein letztes Stückchen Freizügigkeit abgehandelt, das den Flüchtlingen die Fluchtwege in die Bundesrepublik abschneidet. (...) Art. 16 ist mit geschlossenen Grenzen ohne Substanz. Statt gegen die Zahlenmanipulationen der Regierungsparteien in Sachen Flüchtlinge vorzugehen, ersticken Sie den Zugang mit Asylrecht und degradieren es zur Staffage. Ihr Engagement für Flüchtlinge wird zum bloßen Schein. Realpolitisch aber versetzen Sie ihm den Todesstoß. Sie bekämpfen die Asylantenfeindlichkeit, indem Sie die Flüchtlinge abweisen. Bekanntlich gibt es aber auch Antise mitismus auch ohne Juden - dies ist eine empirisch erwiesene traurige Tatsache. Auch Sie tragen jetzt den Wahlkampf auf dem Rücken der Flüchtlinge aus. Welchen Flüchtlingen haben der Kanzlerkandidat Rau und der Friedensforscher Bahr den Weg durch die Mauer in die Freiheit versperrt? - Der Golfkrieg geht in diesen Tagen in das siebente Jahr, dauert somit schon länger als der Zweite Weltkrieg und forderte bereits an die eine Million Opfer. Unter ihnen Zehntausende Angehörige der kurdischen und assyrisch–christlichen Minderheiten, deren Dörfer zu Hunderten zerstört wurden. Seit vielen Jahren werden in den Gefängnissen des Irak und des Iran Tausende von Menschen zu Tode gefoltert oder hingerichtet - zuletzt berichtete die britische Labour–Partei im Mai dieses Jahres über den Mord an 5.000 Gefangenen allein in dem einen Gefängnis von Abou–Graib - dies in einer zehn Tage währenden Massenexekution. Die Bundesrepublik ermöglicht mit Waffenlieferungen und Transportmitteln, sei es direkt oder über Argentinien oder Frankreich, sowie mit Hermesbürgschaften, großzügigen Umschuldungen die Fortdauer des Krieges. Aus der Sicht der beiden Diktatoren sind die Flüchtlinge - Iraker, Iraner, Kurden oder Assyrer - wie seinerzeit Willy Brandt aus der Perspektive der Nazis Deserteure. Ihnen hat die SPD–Führung jetzt die Türen verschlossen. Welche Häme und Arroganz gehört dazu, wenn ein Pressesprecher zur Rechtfertigung von Bahrs neuer Ostpolitik erklärt, auch Willy Brandt habe sich seinerzeit als politischer Flüchtling nicht einfach eine Flugkarte kaufen können?! Als ich Ihre freundliche Einladung zu dieser innenpolitischen Fachkonferenz erhielt, ahnte ich noch nicht, in welche Situation mich die Bahr–Initiative hier heute drängen würde. Die Empörung unter unseren dreitausend Mitgliedern macht es mir leider nicht möglich, an dieser Stelle, wie ursprünglich beabsichtigt, mit Ihnen Anregungen in bezug auf die Flüchtlingspolitik zu diskutieren, denn bei Ihnen sind die Würfel ja nun gefallen. Viele von uns werden sich jetzt überlegen müssen, wie Flüchtlingen zu ihrem Recht verholfen werden kann. Werfen Sie unseren Menschenrechtsorganisationen dann nicht vor, Schleppergesellschaften zu sein - Zehntausende von jüdischen Flüchtlingen verdanken angesichts der von den Nachbarn Nazideutschlands verriegelten Grenzen eben solchen Schleppern ihr Leben; zu diesen Schleppern zählt übrigens unser heute in London lebender jüdischer Schirmherr Richard Hauser als Repräsentant der Österreichischen Liga für Menschenrechte zwischen 1933 und 1938 in Wien. Von „Schleppern“ gerettet wurde Ernst Tugendhat, heute Professor und Schirmherr der Gesellschaft für bedrohte Völker in Berlin. Abschließend möchte ich daran erinnern, daß mindenstens 15 Millionen unter uns, auch ich, Vertriebene oder Flüchtlinge oder deren Kinder sind. In Ihrer Einladung hieß es, daß unsere Arbeit Gewähr biete, Probleme und Gefahren zu verdeutlichen und aufzuzeigen. Darum habe ich mich bemüht.