Island im Schnellkurs

Washington (taz) - Es ist Samstagabend in den Vereinigten Staaten, Zeit für ein paar Biere in der Kneipe oder für zwei aufregende Stunden im Football–Stadion, Zeit zum Ausklinken aus der grimmigen Realität, die früh genug, spätestens am Montagmorgen, wieder hereinbrechen wird. Keine gute Zeit für große Politik jedenfalls. Keine Überraschung demzufolge auch, daß vom „Minigipfel“ - „es gibt gar keinen“ -, wie es in der offiziellen Version heißt, zwischen Los Angeles und Boston kaum großartig Notiz genommen worden wäre. Schade eigentlich, denn was hatten die Leute vom Fernsehen sich ins Zeug gelegt! Ganze Flugzeugladungen voll Kameras, Scheinwerfer, Monitoren, Kilometer von Kabeln waren nach Reykjavik gejetet worden; nicht zu vergessen, die Hundertschaften von Technikern, Sekretären, Reportern und schließlich die Top–Stars des Gipfels, die Authormen, die Moderatoren der Nachrichtensendungen, an denen die ganze Show hängt wie ein Flugzeugträger an seinem Anker. Seit drei Tagen moderierten sie schon die Tagesereignisse Islands, mit Dampf vor dem Mund und dicken Schals um ihren Hals. Seitdem hat die amerikanische Öffentlichkeit einen Schnellkurs in Nordistik erteilt bekommen. Island liege auf halber Strecke zwischen Moskau und Washington, es gebe dort sogar eine US–Militärbasis, einen Flughafen und ein paar Häfen. Es gebe eine kostenlose obligatorische Schulerziehung bis zum Alter von 15 Jahren. Isländer, so hieß es am dritten Tag, sprechen fast dieselbe Sprache wie ihre Vorgänger, die Wikinger, vor tausend Jahren, als deren berühmte Sagen den Grundstock für eine beachtliche Literatur legten. Und: Isländer sind erfindungsreich und kreativ. Damit sie weiterhin recht viel lesen und ihr Bedürfnis nach der flimmernden Röhre nicht amerikanische Dimensionen erreicht, schaltet die Regierung das einzige, vom Staat kontrollierte Programm jeden Donnerstag einfach ab. Ein bizarres, aber sympathisches Völkchen also, dessen Premierminister im Telefonbuch steht und sich am liebsten im geheizten Swimming– Pool interviewen läßt. Aber die Isländer wollen ja nicht die Hauptrolle spielen. Auch nicht Reagan oder Gorbatschow, nein, das Thema der Woche war eine Rakete, deren Schicksal sich möglicherweise in Reykjavik entscheiden könnte: die sogenannten Euro–Missiles, auf deren beiderseitige Reduzierung man sich anfänglich verständigen könnte. Zu Dutzenden liefen in diesen Tagen Pershings II und sowjetische SS 20 über die amerikanischen Bildschirme, als gäbe es Archivbilder von mindestens drei Nuklearkriegen. Die hat es natürlich nicht gegeben, dagegen ist der jahrelange europäische Widerstand gegen diese Waffen eine Realität, die auch heute noch in der Erinnerung haftet. Die wichtigste Entscheidung im Hinblick auf die Gespräche in Reykjavik fiel früh am Freitag im Repräsentantenhaus in Washington, wo die Führer der demokratischen Partei in ihrer Haushaltsdebatte klein beigaben und ihre politische Forderungen nach einer Beschränkung von Atomwaffen fallen ließen. Stefan Schaaf