G A S T K O M M E N T A R Reykjavik: Tschernobyl menschlichen Geistes

■ Zum Scheitern des Gipfels

Aus europäischer Sicht ist Reagans Weigerung, SDI in die Verhandlungen miteinzubeziehen, ein Schlag ins Gesicht seiner engsten Verbündeten. Haben uns Experten, Politiker und Journalisten nicht jahrelang versichert, daß der Präsident, wenn es darauf ankäme, zu Verhandlungen bereit sei? Doch die Vorliebe der Reaganistas für eine militärische und politische Strategie, die sich auf die Möglichkeit eines Erstschlags im Falle einer Krise stützt, ist offenbar. Es wurde erwartet, daß die anhaltende Wirtschaftskrise die Regierung zur Vernunft bringen würde. Das Gegenteil scheint jedoch der Fall zu sein: Wo die großen US–Banken bedroht sind und die US–Industrie von der ausländischen Konkurrenz bedrängt ist, wo weite Landstriche zu Notstandsgebieten geworden sind und der Lebensstandard ständig sinkt, muß sich eine Regierung, die Angst vor der Wirklichkeit hat, auf SDI als Hoffnung stützen. So kann zumindest der militärisch–industrielle Komplex als wirtschaflicher Katalysator funktionieren. Für die Republikaner war die ideologische und psychologische Mobilisierung zur Unterstützung der Regierung in ihrem permanenten Kampf um die globale Vorherrschaft schon immer Leitlinie amerikanischer Politik. Ordnet sich die Opposition den Erfordernissen des „Empires“ nicht unter, muß sie dazu gezwungen werden. Opportunität wird deshalb zu einem wesentlichen Charakterzug von Politikern. Dies zeigt sich am Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des Senats. Richard Lugar aus Indiana fühlte sich bemüßigt, dem Präsidenten zu bestätigen, nicht nachgegeben zu haben. Jene, die wie der demokratische Politiker Claiborne Pell von Rhode Island das Unglück von Reykjavik einen schwarzen Tag nannten, werden als Schwächlinge behandelt - ihnen wird mangelnder Patriotismus unterstellt. Teile der demokratischen Partei werden zusammen mit Wissenschaftlern, Kirchen und der Friedensbewegung gegen diesen Trend Stellung beziehen und ihre Opposition gegen SDI verstärken. Ihnen gegenüber stehen Tausende von Regierungsbeschäftigten, die sich gegen eine Zurücknahme der eingespielten Prinzipien wehren. Das US–Empire hat eine ganze Gruppe von Parasiten geschaffen, die nicht ihm zu Diensten sind, sondern von ihm leben. Die Parasiten sind jedoch nicht auf die USA beschränkt. Die sowjetischen Militaristen und Super–Patrioten setzen nun ihrerseits Gorbatschow unter Druck. Es bleibt zu hoffen, daß ihm genug Raum für innenpolitische Manöver bleibt. Außenpolitisch hat sich sein Spielraum durch Reagans Hartnäckigkeit vergrößert. Die Welt blickt nun auf die Sowjetunion, um zu sehen, wie sie auf dieses universale Drama reagiert: kühne Vorschlägen wären angebracht, die es den westeuropäischen Regierungen erschweren, sich wieder einmal dem amerikanischen Diktat zu beugen. Maßnahmen wie zum Beispiel die Verlängerung des Atomtestmoratoriums würden auch die amerikanische Opposition ermutigen. In einer Welt gigantischer Bürokratien und emsiger Apparatschiks sind neue Ideen bedrohlich. Reagans Antwort auf Gorbatschows Vorschläge entspricht instinktiv den Gesetzen der modernen parasitären Politiker: Sie reduzieren internationale Politik auf eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Ihr Tiefpunkt wurde in Reykjavik gefunden, dem Tschernobyl des menschlichen Geistes mit möglicherweise fatalen Konsequenzen für die gesamte Menschheit. Norman Birnbaum (Amerikanischer Politikwissenschaftler und Europaexperte, z.Zt. Gastdozent am Wissenschaftskolleg in Berlin)