P O R T R A I T
: Mahner an die Menschheit

■ Elie Wiesel

„Elie Wiesel wäre wohl unter allen Umständen ein Erzähler geworden. Wir hätten sicher erfahren vom Küster–Mosche aus Szigeth, vom schwarzen Kopftuch der Großmutter, wären eingeweiht worden in die Fragen des Talmud–Schülers an seinen Lehrer Kalmann, in die Antworten des kabbalistischen Lehrers mit dem vergilbten Bart. Und doch wäre aus Elie Wiesel kein Scholem Alejchem geworden, kein bloßer, wie gewaltiger Erzähler auch immer, sondern einer, der Geschichten nur erzählt als Beispiel oder als Frage an seinen Gott. Elie Wiesel wäre vielleicht ein Bürger seiner chassidischen Provinz geblieben, wäre vielleicht ein jüdischer Mystiker geblieben, fromm und aufbegehrend, immer unterwegs mit der Frage, ob Leiden einen Sinn habe, ob der Messias den Ketten der Zukunft zu entreißen sei.“ Mit diesen Worten leitete vor Jahren Martin Walser sein Vorwort zur deutschen Ausgabe eines der zahlreichen Bücher ein, in de nen der diesjährige Friedensnobelpreisträger seit den späten fünfziger Jahren sein Zeugnis von Leben und Leiden, von Denken und Empfinden einer Generation der Verfolgten ablegt. Geboren wurde Elie Wiesel 1928 in Szigeth, in der tiefsten transsylvanischen Provinz, damals zu Ungarn gehörend, heute zu Rumänien. Seine Familie war vom Geist der jüdischen Orthodoxie beherrscht, von der mystischen Bewegung des osteuropäischen Chassidismus. Aber in den geruhsamen Lebensfluß des transsylvanischen Städtchens brach europäische Geschichte ein. Elie Wiesel konnte kein bloßer Erzähler, nicht ein jüdischer Mystiker werden, weil er mit seiner Famliie, mit der ganzen Gemeinde von Szigeth, im Alter von 15 Jahren erst nach Birkenau und anschließend nach Auschwitz, Buna und Buchenwald deportiert wurde. Sein weiteres Leben glich in vielerlei Hinsicht dem vieler anderer durch Zufall, gleichsam durch einen Schicksalsirrtum am Leben gebliebener Opfer - in seiner Stellungnahme zu der Entscheidung des Nobelpreiskomitees in Oslo brachte der israelische Rundfunk zum Ausdruck, daß neben Elie Wiesel sechs Millionen stehen werden. Er aber besaß die Gabe, das, was viele als unaussprechlich angesehen hatten, in Worte zu fassen. Martin Walser sagt über das Lesen dessen, was Elie Wiesel schreibt: „Versagt wird uns jenes feine Vergnügen, alle Wirklichkeit im Stil aufgehoben zu sehen. Literatur als Mitteilung ist keine kulinarische Literatur. Sie ist aber, glaube ich, die einzige Literatur, die notwendig ist.“ Zu schreiben fing er in Paris an, und auf jiddisch. Sein erstes Buch „Un di Welt hot geschwign“ - veröffentlicht 1958 - ist eine direkte „Mitteilung“ über den Horror der Vernichtungslager. Aber mehr noch als für jeden anderen Autor gilt für Elie Wiesel der Spruch, daß jeder Schriftsteller sein Leben lang an einem und dem gleichen Buch schreibt. Sein Weltbild, in dem die Fähigkeit des Menschen zum Unmenschlichen und deren Bekämpfung dominieren, offenbart sich in seinen Romanen durch das Prisma der jüdischen Überlieferung - des Talmud, der Kabbala und des chassidischen Mystizismus - gefiltert. Sein Engagement fand sich Ausdrucksmittel nicht nur auf der philosophisch–literarischen Ebene, sondern auch im tagespolitischen Bereich. Besonders nach seiner Übersiedlung nach New York widmete er sich mehr und mehr auch journalistischer Tätigkeit, als korrespondierender Mitarbeiter sowohl der israelischen Tageszeitung Jedioth Acharonoth als auch in seiner Arbeit für die New Yorker sozialistische jiddische Tageszeitung Forwerds. Wie der Sprecher des norwegischen Nobelpreiskomitees Egil Aarvik in seiner Begründung für die Preisvergabe betont hatte, erweiterte sich dabei in den letzten Jahren das Engagement Elie Wiesels inzwischen auf alle unterdrückten Völker und Rassen. Er war es auch, der vor zwei Jahren bis zum letzten Augenblick und mit allen Mitteln versucht hatte, das beschämende Treffen auf dem Bitburger Friedhof zu verhindern. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des US Holocaust Memorial Committee besuchte Elie Wiesel am letzten 20. Januar, zum Jahrestag der Wannsee–Konferenz, Berlin, und traf hier unter anderem mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin, Heinz Galinski, zusammen. Gerade am vergangenen Sonntag, am Vorabend des Heiligsten Tages im jüdischen Jahr, des Versöhnungstages Yom Kippur, zitierte Heinz Galinski in seiner Ansprache in der Synagoge am Fraenkel– Ufer einige einfache Worte des Schriftstellers, die man auch als sein Credo auffassen könnte: „Glauben Sie mir, der Gegensatz von Liebe ist nicht Haß, der Gegensatz von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, der Gegensatz von geistiger Gesundheit und von gesundem Menschenverstand ist nicht Wahnsinn, und der Gegensatz von Erinnerung heißt nicht Vergessen, sondern es ist nichts anderes als jedes Mal die Gleichgültigkeit.“ Egil Aarvik bezeichnete Elie Wiesel als einen der bedeutendsten geistigen Führer und Wegweiser einer Zeit, in der Gewalt, Unterdrückung und Rassismus immer noch das Bild der Welt mitprägen. Wiesel sei ein Mahner der Menschheit für Frieden, Versöhnung und Menschenwürde. Peter Ambros