„Ist Prospektverteilen strafbar?“

■ Eine 52jährige Arbeiterin wollte Arbeitslosenhilfe aufbessern / Aus Unwissenheit teilte sie dem Arbeitsamt nichts mit und wurde wegen Betruges zu Geldstrafe mit Bewährung verurteilt / Zum Leben bleiben 340 Mark

Aus Bochum Petra Bornhöft

„Ohne Arbeit hätte die Angeklagte ein höheres Einkommen erzielt. Der Staat hätte mehr raustun müssen“, begründete Richter Mölders gestern ein Urteil des Bochumer Schöffengerichtes gegen die ungelernte Arbeiterin Gisela S. Sofern sie sich in den nächsten zwei Jahren strafbar macht, muß die 52jährige 300 DM Geldstrafe zahlen. Gisela S., ledig und seit Jahren arbeitslos, hatte ihre Arbeitslosenhilfe von 400 Mark monatlich aufbessern wollen. Bei einem Stundenlohn von zehn DM verteilte die Angeklagte für eine Herner Firma Prospekte. In 18 Monaten erhielt sie 7.200 DM, ohne ihren „Verdienst“ beim Arbeitsamt anzugeben. „Ist Prospektvertei len denn strafbar?“ fragte die schüchterne Frau den Richter. Aufgeflogen war der „Betrug“, als die Staatsanwaltschaft Gisela S.s Arbeitgeber auf die Schliche kam und in der Firma wegen Steuerhinterziehung ermittelte. Bei Durchsicht der Akten stießen die Fahnder auf die Unterlagen der Beschuldigten. Für die „Präzision“ staatsanwaltschaflicher Ermittlungen spricht, daß die Anklageschrift fälschlicherweise behauptet, Frau S. habe von September 1984 bis Februar 1986 zu Unrecht 12.541 DM Arbeitslosenhilfe bezogen. Vom Richter auf diese „für eine ungelernte Arbeiterin unrealistisch hohe Arbeitslosenunterstützung“ hingewiesen, korrigierte Staatsanwältin Müller– Wolf die Anklage. Der entstandene „Schaden“ liege „vermut lich zwischen den 4.457 DM, die das Arbeitsamt an Arbeitslosenhilfe zurückfordert, und „dem erzielten Einkommen von 7.200 DM“. Dem Antrag der Staatsanwältin (600 DM Strafe) folgte das Gericht nicht, weil es sich „kaum vorstellen kann“, so der Richter, wie Gisela S. von ihrem derzeitigen Einkommen lebt. Sie verteilt weiterhin Prospekte. Von dem Verdienst berechnet das Arbeitsamt der nach wie vor arbeitslos gemeldeten Frau 120 DM und fordert gleichzeitig monatlich 185 DM „zu Unrecht bezogene Arbeitslosenunterstützung“ zurück. Nach Abzug der Miete verfügt Frau S. über etwa 340 Mark. So mußte Richter Mölders feststellen: „Eine Geldstrafe könnte die Frau gar nicht bezahlen“. Mildernde Umstände gewährte das gleichwohl auf „abschreckende Wirkung des Urteils“ pochende Gericht, weil „Frau S. ohne Arbeit bei Inanspruchnahme des Sozialamtes mehr zum Leben gehabt hätte als mit Arbeit“. Warum sie nicht aufstockende Sozialhilfe beantragt habe, wollte der Richter wissen. Gisela S. widersprach. Sie sei einmal zum Sozialamt gegangen. Doch der beantragte Heizkostenzuschuß wurde abgelehnt. Die „Straftäterin“, die sich keinen Rechtsanwalt leisten konnte, wird auch künftig nicht zum Sozialamt gehen, obgleich ihr Geld zusteht. Während wir gemeinsam durch Gerichtsflure irrten und den Ausgang suchten, sagte sie: „Es ist besser, wenn man für sich allein sorgt. So viele Menschen können nicht arbeiten, die brauchen Hilfe. Ich schaffe das schon“. Sehr überzeugend klang das nicht.