Die NATO tut gut, gewiß

■ Eine Berliner Reisegruppe zu Besuch im Hauptquartier der NATO in Brüssel / Die „kriegstreiberischen Charaktermasken“ geben sich unverhofft soft / Ganz „Frieden und Sicherheit“ / Rot–grünes Bündnis wird als Bedrohung realisiert

Von Benedict M.Mülder

Berlin (taz) - „Vigilia Pretium Libertatis, Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“. Einer Mrs. Robert J.Wood ist es zu verdanken, daß die eherne Regel aus dem amerikanischen Bürgerkrieg ein NATO–Signet ziert, das in tiefem Grün die „friedlichen Wälder und Felder Europas“ symbolisiert. Mr. Wood, ihr Gatte, war einer der Sekretäre von SHAPE, dessen Kürzel in NATO–Diskussionen kaum eine Rolle spielt, das indes als „Supreme Headquarter Allied Powers Europe“, sprich als „Oberstes Hauptquartier der Alliierten Mächte in Europa“ mindestens zehntausend von Besuchern pro Jahr in Erinnerung bleiben soll. Da sind diesmal, gesponsert von der Berliner US–Mission, ein JU–Landesvorsitzender, vorsichtshalber einer seiner innerparteilichen Gegenspieler vom „reform wing“, ein Jung–, der zum Sozialdemokraten wurde, ein Mann vom Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS), ein junger Anwalt, dann einer vom FU–Asta, schließlich ein Ausstellungsmacher und Verleger, der stolz auf seine APO–Vergangenheit ist, ein friedensbewegter Pfarrer, der Pressesprecher einer Senatorin, der Repräsentant einer alternativen Stadtillustrierten sowie die Korrespondenten von zwei mehr oder weniger großen Tageszeitungen. Mal als „decision leaders“, mal als „opinion makers“ eingestuft, geisterte die Gruppe aus der Mauerstadt Anfang Oktober durch die diversen Listen und Kontrollbögen der Nato–Heimstätten in Bruxelles und Umgebung. Das Terrain ist unübersichtlich, clandestine Gestalten im Trenchcoat mit jeweils den gleichen Koffern werden als einzige sofort als Agenten identifiziert, aber außerdem herrscht in den an ein etwas zu groß geratenes, zweizügiges Mittelstufenzentrum erinnernden Gebäuden emsige Geschäftigkeit. Ein Hin und Her von Uniformen und Zivilem wie auf einem Marktplatz, den ein hoher Zaun umgibt. Da, wo Außenminister Genscher erst neulich wieder im Fernsehen zu sehen war, ist wenig vom militärischen Zeremoniell zu merken. Nur deuten die vielen bunten Bilder aus dem Soldatenleben zwischen Schnee (Norwegen) und Steppe (Türkei) an der Wand den wenig zivilen Auftrag der ganzen Angelegenheit an. „Deutsche Luftwaffe“, stellt sich der Presseoffizier Konrad Freytag vor, die Betonung liegt auf deutsch, „auch wenn das NATO–Emblem angerostet ist, so ist es das nur äußerlich“. Die Russen sind neben den libyschen oder anderen Terroristen nicht nur des Pressemannes bevorzugter Gesprächsgegenstand. Eine altertümliche Dia–Show will die zahlenmäßige Überlegenheit des „Iwan“ suggerieren, aber so recht ist man von der Erbsenzählerei selbst nicht überzeugt. Die Kampfmoral der Asiaten, die ideologische Ausrichtung mache zu schaffen, weniger die Quantitäten von Mann und Technik, wird dem Besucher beschieden. Wer da im einzelnen Rede und Antwort steht, darf nicht verraten werden, denn man „empfängt“ die Message in „briefings“, also streng vertraulich. Vier nicht unbedingt natospezifische Grundtypen von Informanten sind anzutreffen: der Zukunftspessimist, der nachdenkliche Realist, sogar ein Spiritualist und schließlich der Scharfmacher (“Ist Jesus gegen Verteidigung?“), der sich auch als solcher bezeichnet.Manche sind ganz der mittelalterliche distinguierte Studienrat, andere der schmissige Dynamiker, der, gebremst vom mangelnden Vertrauen ins Bünd nis, Ratlosigkeit demonstriert und schon bald den nicht abhörsicheren Raum verläßt. Zum Erstaunen der Besucher hat er zuvor nicht den Europäern und ihrer Amerikamüdigkeit eine Gardinenpredigt gehalten, nein, es ist gerade umgekehrt. Die „größte Gefahr für die NATO“ sieht der gebürtige Hesse im Range eines US– Oberstleutnants „in den USA“. Dort sei die Stimmung gegen das Bündnis heuer stärker als zu Zeiten des Vietnam– Krieges. Die wenigsten drüben wüßten, daß die USA in Europa auch ihre eigenen Interessen verteidigten. Sein Alptraum deshalb, ein Labour–Sieg in England, ein entsprechender SPD–Wahlkampf hier und ein steigender Isolatio nismus jenseits des Atlantiks. Daß es zwischen den Partnern „Widersprüche“ gibt, darüber will zwar niemand so richtig raus mit der Sprache, aber ausdrücklich werden sie auch nicht bestritten. Eher diplomatisch codiert ist davon die Rede, daß die gegenseitigen Konsultationsprozesse verbessert werden müssen. „Wir sollten dankbar sein“, gibt der deutsche General Lutz Moek, der dritte Mann im Stab, zu bedenken, „daß die Deutschen im Falle des amerikanischen Angriffs auf Libyen nicht Beistand haben leisten müssen“. Der Mann entpuppt sich als nachdenklicher Soldat, ist keiner, der auf Rache sinnt oder stramm deutsch Richtung Osten blickt. Ihm obliegt offenbar die Aufgabe des Vermittlers. Dort die Amerikaner, die es leid waren, als unfähig im Kampf gegen den Terrorismus vorgeführt zu werden, hier etwa die Deutschen, die es sich mit ihrer Positionsfindung im Bündnis nicht leicht machen. Die Amerikaner pflegt er so aufzuklären:“Wegen der Raketenstationierung hat ein Kanzler sogar die Regierungsmehrheit verloren“. Sollte es aber tatsächlich eine andere, eine rot– grüne Regierung geben, sieht er die „Grundfesten des Bündnisses“ wanken. Gleichwohl betont der General das „Primat der Politik“. Auf Problembewußtsein reagieren die anderen Vortragenden mit immer gleichen Beschwörungsformeln: die westlichen Grundwerte, die Solidarität der freien Welt, Frieden und Freiheit. Ein Attache, der schon zu Zeiten des Algerienkrieges in deutschen Diensten war, bringt die Misere schließlich auf den Punkt: „Wir befinden uns in einer schleichenden Kulturrevolution im Zeitalter des Werteagnostizismus, Werte werden zu Unwerten.“ Wie einst vor den Mongolen, übten sich heute die Völker vor den Asiaten aus Angst vor einem Konflikt in vorweggenommenem Gehorsam. Friede und Freiheit seien zu Produkten wie Coca Cola verkommen „und wir provinziell“, die Amerikaner inclusive. Er hat aus dem moralischen Verfall Konsequenzen gezogen und bekennt am bitteren Ende:“Ich bin deutscher Muslim geworden“. Allah lehre, mit dem Wandel der Gewalt fertig zu werden. Das ehrt ihn, wenn gleich einige der Reisenden, denen Europa am Gängelband der Vereinigten Staaten dünkt, sich mehr von einer „Europäisierung“ der NATO erhoffen, notfalls mit eigener Nuklearstreitmacht. Den Ausstieg probt so richtig keiner und über Neutralisierung will man nicht reden, „weil Deutschland dann kein Industrieland mehr wäre“, wie der „Scharfmacher“ warnt.