Das Abrüstungspoker geht weiter

■ Entscheidend für das Scheitern des Gipfels in Reykjavik ist das Beharren auf SDI / Die Bundesregierung solidarisiert sich mit der Haltung Reagans / CDU fürchtet Null–Lösung bei Mittelstreckenwaffen in Europa

Das Gipfeltreffen in Reykjavik hat zumindest deutlich gemacht, daß das Beharren auf SDI seitens der USA Abrüstungsvereinbarungen verhindert hat. Somit konnte Gorbatschow einen positiven Effekt erreichen. Das Abrüstungspoker geht dennoch weiter. Auch die Bundesregierung gewinnt dem Scheitern zunehmend positive Seiten ab. Der Grund dafür ist in der Furcht der CDU vor der Null–Lösung bezüglich eines Abzuges der Mittelstreckenwaffen in Europa zu suchen.

„Reykjavik“ war in dreifacher Hinsicht ein Gorbatschowscher Überraschungscoup: schon die Einberufung des Treffens, dann die weitgehenden sowjetischen Zugeständnisse und Vorschläge und schließlich auch der Umstand, daß Gorbatschow das Scheitern dieses „Vor–Gipfels“ allem Anschein nach unbeschadet überstanden hat. Es war ein vorerst erfolgreicher Befreiungsschlag aus der Defensive. Bekanntlich hatte die sowjetische Führung bis Ende September beharrlich darauf bestanden, daß das in Genf vereinbarte zweite Gipfeltreffen dieses Jahres nur dann zustande kommen kann, wenn sich tatsächliche Fortschritte bei der Abrüstung abzeichneten. In dieser Beziehung hatte sich auch im September nichts geändert. Und trotzdem wurde nach Beendigung der „Daniloff–Affaire“ die Welt am 1. Oktober von der Nachricht überrascht, daß der sowjetische Generalsekretär den US–Präsidenten binnen weniger als zwei Wochen treffen wolle. Es muß sich hier um die Initiative eines sehr kleinen Kreises aus der sowjetischen Führung (Gorbatschow, Dobrynin, Schewardnadse) gehandelt haben, die natürlich vom Politbüro, das am Tag zuvor seine allwöchentliche Sitzung hatte, abgesegnet, aber ohne längere Debatten in der Führungsschicht gestartet wurde. Selbst ein hoher Funktionär wie der Chefredakteur der Prawda, V. Afanasjew, war nicht eingeweiht worden. Er schrieb in der vergangenen Woche in einem Artikel: „Ich verberge nicht, daß für mich, einen sehr informierten Menschen, die Nachricht über das bevorstehende Treffen in gewissem Sinne eine Überraschung war. Eine angenehme Überraschung.“ Der Versuch, aktuelle außenpolitische Konstellationen zu nutzen, hat hier sicherlich eine Rolle gespielt. Trotzdem war die Hoffnung kühn, der alte Mann im Weißen Haus würde von seiner Lieblingsidee SDI ablassen - und ohne das kann und wird es keine Abrüstung bei den strategischen Waffen geben. Es ist wahrscheinlich, daß Gorbatschow ein Scheitern zumindest einkalkuliert hat. Auch so, wie die Sache jetzt ausgegangen ist, hat er zumindest zweierlei erreicht: Erstens ist deutlich geworden, daß der entscheidende Hemmschuh für Abrüstungsvereinbarungen das Beharren auf SDI ist, und damit das Bestreben der Führung der USA, das Wettrüsten auf eine neue Ebene, auf der sie sich technologisch überlegen fühlt, zu verlagern. Zweitens hat dieses Scheitern die Nicht–Identität der Sicherheitsinteressen von USA und Westeuropa demonstriert. Denn hier ist das aktuellste Problem gegenwärtig immer noch die Frage der Mittelstreckenraketen. Und drittens ist der Weltöffentlichkeit und insbesondere den unbewußten Apologeten der Reaganschen Aufrüstungspolitik gezeigt worden, daß nicht etwa SDI ein Hebel ist, um die Sowjets zu Verhandlungen zu zwingen, sondern daß das Kausalverhältnis umgekehrt ist: Verhandlungen werden geführt, um die Aufrüstungspolitik der Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. Diese Erfahrung wird sich etwa bei den nächsten Haus haltsberatungen des Kongresses wohl bemerkbar machen. All das sind aus sowjetischer Sicht positive Effekte des Reykjaviker Treffens. Das muß aber nicht bedeuten, daß sie von vornherein als ausreichende Ergebnisse kalkuliert waren, denn einen wirklich greifbaren Erfolg der neuen Gorbatschowschen Außenpolitik bedeuten sie nicht: Auf dieser Grundlage kann noch kein einziger Rubel aus dem sowjetischen Rüstungssektor in den zivilen Sektor der Wirtschaft umdirigiert werden. Gorbatschow steht aber unter innenpolitischem Erfolgszwang. Seine Reformvorhaben kommen nicht vom Fleck. Selbst das Politbüro der KPdSU hat jüngst in einem Kommunique erklärt: „... der Kurs zur Erneuerung schreitet ohne die notwendige Dynamik voran, ... der Prozeß der Umgestaltung ... trifft auf den Widerstand derjenigen, die aus egoistischen Gründen heraus überlebte Ordnungen und Privilegien zu bewahren versuchen.“ Gorbatschow sagte in einer am folgenden Tag veröffentlichten Rede vor Gesellschaftswissenschaftlern: „Es ist klar, daß auf dem Wege der Umgestaltung unseres Lebens, seiner Erneuerung, ein scharfer, nicht immer offener, aber kompromißloser Kampf der Ideen, der psychologischen Einstellungen, der Stile des Denkens und des Verhaltens vor sich geht.“ Tatsächlich muß man annehmen, daß die wesentlichen Säulen des Systems - Parteiapparat, Staatsapparat und Wirtschaftsapparat, Armee und KGB - über die Politik des neuen Generalsekretärs nicht gerade glücklich sind und auch die Werktätigen ihm eher mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen. Apparate mögen es nicht, wenn sie durchforstet und ihrer Privilegien beraubt werden. Der KGB scheut die allseits proklamierte „Öffentlichkeit“. Das Militär soll die Abrüstungszeche bezahlen. Und auch die Arbeiter merken bisher vor allem, daß von ihnen mehr verlangt wird. Den Widerstand der Apparate will die Gorbatschow– Führung auf einem Plenum des ZK der KPdSU, das im kommenden Monat stattfinden soll, damit beantworten, daß führende Funktionäre gefeuert werden. „Diskussion kaderpolitischer Fragen“ nennt sich das. Gewiß gibt es in all den zuvor genannten Institutionen und auch bei den Werktätigen Personen, die die neue Linie aus ideellen Gründen oder auch, weil sie ihr den eigenen Aufstieg verdanken, unterstützen. Sie werden mehr, und zudem steht wohl die Intelligenz, zumindest ihr kreativer Teil, hinter der „Beschleunigung des sozialökonomischen Fortschritts“ und der Verbreiterung der „Öffentlichkeit“. So ist der Kampf noch unentschieden: Was man in einer solchen Situation vermeiden sollte, ist, den Leuten, die aus den verschiedensten Interessen heraus Gegner eines neuen Kurses sind, ein gemeinsames Thema zu geben, das sie zum Programm erheben können. Dieses Risiko aber ist Gorbatschow wohl auch in der Hoffnung auf einen schnellen Erfolg mit dem Treffen von Reykjavik eingegangen: „Verletzung der Sicherheitsinteressen des Vaterlandes“ und „Leichtgläubigkeit gegenüber dem Klassenfeind“, das wären Parolen, um die herum sich eine antireformerische Koalition gruppieren könnte. Gorbatschow hat dem unmittelbar nach dem Treffen durch eine Pressekonferenz und dann durch eine lange Ansprache im sowjetischen Fernsehen, in der er die Verhandlungen im Detail schilderte, versucht, entgegenzuwirken. Seine Botschaft: Es gibt keinen anderen Weg, trifft den wunden Punkt seiner innenpolitischen Gegner - es fehlt ihnen ein Alternativprogramm. Die Verteidigung von Privilegien allein genügt nicht, um ideologische oder auch nur politische Hegemonie zu erringen. Ganz abgesehen von aller „Fixierung auf SDI“ hat die US–amerikanische Administration auf diese Situation - an ihren Maßstäben gemessen - sehr rational reagiert: Wenn einer auf den Zusammenbruch des „Sowjetimperiums“ „mit einem kläglichen Winseln“ (C. Weinberger) hofft, dann kann er kein Interesse daran haben, einem neuen politischen Führer der Gegenseite, der diesen Laden wieder in Trab bringt, in kritischen Situationen auch noch Erfolgsmeldungen zu verschaffen. Das sagt man natürlich nicht so, aber tut es. Die Gorbatschow–Führung hat dennoch die erste Woche nach Reykjavik heil überstanden. Ihre Konzeption ist, da, wo sie mit direkten Verhandlungen nicht weiterkommt, indirekten Druck auszuüben: auf und über die Westeuropäer, indem die Mittelstreckenraketen nicht aus dem Verhandlungspaket herausgenommen werden; auf die US–amerikanischen Abgeordneten, indem die Ablehnung von SDI in einzelne Schritte aufgefächert wird, die die Realisierung dieses Projektes verzögern sollen bis zu einem günstigeren Zeitpunkt, ohne daß die Parlamentarierer sich jetzt schon endgültig und offen entscheiden müßten. Beides braucht Zeit. Man kann nur hoffen, daß die westliche Seite nicht wartet, bis es zu spät ist. Walter Süß Liebe Kollegen! Wenn möglich, klebt doch bitte einen schwarzen Rahmen um die Karikatur, um etwas Platz rauszuschinden, sonst ist oben und unten zuviel Platz Danke...