Ein Gericht bricht mit Traditionen

■ Im Stammheimer Revisionsprozeß gegen Peter Jürgen Boock kommt das Strafprozeßrecht zu Ehren

Stammheim (taz) - Zwölf Jahre dauert der Versuch der juristischen Bewältigung der RAF in Stammmheim - zwölf Jahre Strafrechtsveränderung und -verschärfung. Daß aus dem Gebäude einst eine Mehrzweckhalle entstehen sollte, ist längst vergessen. Auch vom Strafprozeßrecht war hier oft nicht mehr viel übriggeblieben. Zahlreiche Verteidiger wurden hier ausgeschlossen, viele sind schon längst nicht mehr zugelassen. In keinem deutschen Prozeßsaal wurden Öffentlichkeit und Verteidigung so offen als Komplizen der Angeklagten betrachtet, nirgends waren Kontrollen demütigender. In keinem anderen Gerichtssaal wurde in so kurzer Zeit so oft, so hart und so lebenslänglich verurteilt wie hier. Die Neuverhandlung gegen den RAF–Aussteiger Boock war die erste Revision eines RAF–Urteils, der der Bundesgerichtshof stattgab. Der Revisionsprozeß gegen Boock ist der erste faire RAF–Prozeß. Und der 5. Strafsenat in seiner jetzigen Besetzung ist der erste, der offenbar gewillt ist, seine richterliche Souveränität zu behalten und sich das Konzept nicht von der Bundesanwaltschaft aus der Hand nehmen zu lassen. Dieser Senat ist der erste, dem es mit der Wahrheitsfindung so ernst ist, daß er auch den Angeklagten in all seinen Äußerungen ernst nimmt. Das entspricht nicht dem Stil des Hauses. Der oft zynische Übermut der Karlsruher Bundesanwälte wurde auf eine harte Probe gestellt. Wer hätte das dem 50jährigen Vorsitzenden Herbert Schmid, dem Newcomer, der sich bis zu Beginn dieses Jahres Wirtschaftsstrafsachen befaßte, zugetraut: Plötzlich war es möglich, daß die Verteidiger ihre Hosen beim Betreten des Gerichts anbehielten. Plötzlich mußte die Bundesanwaltschaft erfahren, daß nicht sie, sondern der Senat Herr des Verfahrens ist, wurden unsinnige Anträge der Bundesanwälte zurückgewiesen und unzulässige abgewiesen. Plötzlich blieben Vorverurteilungen wie „Boock hat sechs Menschen umgebracht, Boock ist ein Mörder und bleibt ein Mörder“ nicht mehr ungerügt. Plötzlich sind auch Entlastungszeugen nicht von vornherein der Komplizenschaft verdächtig, werden Anträge wie der, den Kindereuthanasiearzt Prof. Rauch noch einmal zu hören, zurückgenommen. Gäbe es in Zukunft in Stammheim mehr Richter wie Herbert Schmid und seinen Senat, dann würden Strafrechtsverschärfungen nicht mehr durchs Stammheimer Landrecht präjudiziert, und der Schwarze Peter läge wieder in der Hand der Gesetzgeber. Das Stammheimer Sondergericht aber schaffen wohl selbst viele solcher Richter nicht ab. Diwi