Wenn der Postmann gar nicht klingelt

■ Größter gewerkschaftlicher Aufstand in Frankreich seit 1977 / Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren gegen die Pläne der konservativen Regierung Chirac / Nur das Telefax–Gerät unseres Korrespondenten funktionierte noch

Aus Paris Georg Blume

„Ich hoffe, wir werden heute unsere Stärke zeigen.“ Der Schalterbeamte der französischen Eisenbahn ist sich der Bedeutung des Tages bewußt. Die Rechtsregierung von Premierminister Chirac hat ihre erste große Bestandsprobe. An diesem Dienstag ist der gesamte öffentliche Dienst in Frankreich, sind sechs Millionen Arbeiter zum Streik aufgerufen. Erstmals seit neun Jahren haben sich alle großen französischen Gewerkschaften zu einem gemeinsamen eintägigen Streikaufruf aufgerafft. Die Schüler dürfen sich freuen. „Ich gehe ins Schwimmbad“, sagt ein kleiner Junge auf der Bastille. Statt Schulranzen hat er die Badehose unterm Arm. Frankreich hat heute schulfrei. Im Erziehungsbereich wird der Streik am besten befolgt, 85 Prozent des Personals hat die Arbeit niedergelegt. Das braucht nicht zu erstaunen. Es war die mächtige linksgerichtete französische Lehrergewerkschaft, die „Federation de leducation nationale“ (FEN), die den Streik anzettelte. Die FEN steht als quasi–ständische Organisation außerhalb der drei großen französischen Gewerkschaften, der kommunistischen CGT, der an den Sozialisten orientierten CFDT und der bieder–sozialdemokratischen Force Ouvriere. Schon am Mittag ist in Paris klar: Der Streik ist ein Erfolg. Morgens um halb sieben waren bereits alle Autobahnzubringer der Hauptstadt verstopft und die Bahnstationen überfüllt. Bei Eisenbahn und öffentlichen Verkehrsmitteln ließen die Angestellten nur noch jeden vierten Zug oder Bus fahren. Die Katastrophe blieb allerdings aus, denn die Pariser Metro fuhr weiter fast wie normal. Im ganzen Land kamen auch die Postboten nicht zur gewohnten Stunde, Flugzeuge innerhalb Frankreichs gab es kaum mehr, die staatlichen Elektrizitätswerke der EDF streikten fast geschlossen, so daß man gar Strom aus der Bundesrepublik importieren mußte. Mit Cattenom soll das sonst eher umgekehrt laufen. Auch das Fernsehprogramm wird an diesem Abend auf Sparflamme laufen. Dennoch gaben die Demonstrationen der Gewerkschaften am Morgen in Paris einen etwas traurigen Eindruck. Links der Seine liefen die Lehrer der FEN entlang. Am rechten Ufer vor der Bastille defilierte die CFDT und etwas weiter weg die CGT. „Das ist erniedrigend“, schimpft ein Polizist der CFDT, der sich den Tag extra freigenommen hat, denn bei der Polizei herrscht Streikverbot. Aber er weiß, daß es in der Provinz schon mal anders läuft. In einigen größeren Städten demonstriert man heute auch gemeinsam. Der Schalterbeamte der Eisenbahn stimmt mit ihm überein. „Die Gewerkschaftsführung ist mir egal. Als ich in die CFDT eintrat, habe ich die beste unter den schlechten gewählt.“ Daß sich die Gewerkschaftsführungen trotz aller ideologischen Differenzen zur gemeinsamen Aktion bewegen ließen, liegt denn wohl auch am allgemeinen Bild, das man sich derzeit von den Gewerkschaftsbewegungen macht. Ihre Mitgliederzahlen gehen drastisch zurück, ihr politischer Einfluß scheint ständig zu sinken, vor den Parlamentswahlen im März wurden sie kaum wahrgenommen. In der Privatwirtschaft sind die Streiktage von 3,6 Millionen 1979 auf knapp 900.000 im letzten Jahr gesunken. Ein negativer Rekord. Zudem schaffte der Regierungswechsel nun auch die politischen Voraussetzungen für eine Annäherung untereinander. Dabei ließen es die Chirac–Minister gerade an Angriffen auf den öffentlichen Dienst nicht fehlen. Erst verkündete Chirac selbst, daß die Kaufkraft der Staatsangestellten 1987 nicht steigen dürfe, dann forderte Wirtschafts– und Finanzminister Balladur den Abbau der Beschäftigtenzahl im öffentlichen Dienst, schließlich kritisierte der Transportminister das frühe Rentenalter bei der Eisenbahn. Grund genug also, daß die Gewerkschaften dort zur Tat schritten, wo sie am wenigsten fehlschlagen konnten. Seit den de Gaullschen Nationalisierungen nach dem Krieg sitzen in den öffentlichen Unternehmen ihre treuesten Anhänger. Somit entblößt sich natürlich auch die Schwäche dieses Streiktages. Chirac weiß das. „Ich bin nicht sicher, ob es die Beamten sind, die sich am meisten über die Krise, die wir durchmachen, beschweren können“, bemerkte der Premierminister Dienstagmittag. Die Trennung zwischen den maßlos übervorteilten Staatsangestellten, die ihren Job nicht verlieren können und den armen Arbeitslosen und gefährdeten Arbeitern der Privatindustrie ist leicht gemacht. Die Streikenden wollen davon nichts hören. „Wir lassen uns das Recht, für ein besseres Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen zu streiken, nicht nehmen“, sagt Jean Kaspar, der zweite CFDT–Vorsitzende, und da sind sich auch die anderen vom Eisenbahner bis zum Polizisten einig. Für den Stand der französischen Gewerkschaftsbewegung ist es nur kennzeichnend, daß man darüber noch reden muß. Trotz des 21. Oktobers.