Die Linke besteht auf Nichtbefassung

■ Nach der gesprengten Veranstaltung anläßlich Austs „Stammheim“–Buch scheiterte nun ein neuer Anlauf linker Positionsbestimmung zu RAF/Stammheim durch Drumherumreden - Ein Bericht von Oliver Tolmein

Seit zwei Tagen ist der bundesdeutsche Büchermarkt um eine neue „Stammheim“–Publikation reicher. Nach Stefan Aust jetzt Piet Bakker Schut, ein niederländischer Jurist, der vor allem den „Stammheim–Prozeß“ akribisch analysiert hat. Die Diskussion zum Buch fand Montagabend in Hamburg statt. Doch statt kritischer Reflexion kam nur das große Schweigen. Die radikale Linke, so scheint es, besteht bei dem Thema auf Nichtbefassung.

Montag vormittag hat in der Hafenstraße die Hamburger Polizei ihr Verhältnis zur jüngsten bundesdeutschen Vergangenheit geklärt: Eine Parole, die zum Gedenken an den Todestag von Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader an die Front eines besetzten Hauses gepinselt worden war, wurde von einem starken Einsatzkommando, Wind und Wetter trotzend, eingeschwärzt. Am Abend, in der Hamburger Fabrik, wollte die andere Seite sich des Themas annehmen: Der Neue Malik Verlag und der Buchladen Gegenwind hatten Karlheinz Roth, den Autor des neuen Stammheim–Buches Piet Bakker Schut und den Verteidiger von Helmut Pohl, Johannes Pausch, eingeladen, um über Stammheim und die Folgen für heute zu diskutieren. Trotz der fünf Mark Eintritt und strömendem Regen war der Versammlungsraum des alternativen Kulturzentrums rappelvoll. Allerdings bestand bei vielen mehr Interesse an Bekanntmachungen über die Situation in der Hafenstraße als an einer Auseinandersetzung mit Stammheim: „Bevor wir hier über die vergangenen Kämpfe reden, finde ich es wichtig, mal was zur aktuellen Situation zu sagen...“ Trotz der offen dokumentierten Solidarität und dem Bewußtsein des „wir sind unter uns“ wollte die richtige Stimmung nicht aufkommen. Das mag daran gelegen haben, daß keines der Referate wirklich Neues für die meisten Anwesenden bot. Bakker Schuts einstündiger Vortrag, beschränkte sich im wesentlichen darauf, die Strategie der „Personalisierung, Entpolitisierung und damit Neutralisierung des Prozesses“, die von Staatsseite betrieben wurde, zu kritisieren und die persönliche und politische Integrität der Gefangenen bemerkenswert zu finden. Charakteristisch für den gesamten Abend war die von Beginn an herrschende desinteressierte Unruhe, die sich während des Vortrags von Pausch weiter verstärkte. Deprimierender aber als die Unruhe während der Vorträge wurde das Schweigen, nachdem Karlheinz Roth die Diskussion eröffnet hatte: „Was bedeutet dieses Buch für den Diskussionszusammenhang zwischen Linken und bewaffnetem Kampf, der noch, wieder, oder wie auch immer besteht?“ hatte er als Eingangsfrage formuliert und ausdrücklich auch dazu aufgefordert, den „Blick nach Innen“ zu richten. Die Diskussion müsse selbstkritisch sein und klären, worin der eigene Beitrag dazu bestehe, daß die Geschichte beispielsweise durch das Aust–Buch derartig vermarktet werden konnte. Eine Antwort darauf kam nicht. Stattdessen zerbrach sich eine Rednerin den Kopf darüber, „wie ich mir ein Buch leisten kann, wenn es so schweineteuer ist“. Das rief einen Vertreter des Malik Verlages auf den Plan: Statt einer Diskussion über linke Politik kam es zu einem Grundkurs in kapitalistischer Preiskalkulation. Das erst bracht einige so auf, daß sie sich an eines der vier im Saal aufgestellten Mikrophone trauten. Eines der Themen, das den Rednerinnen wesentlich schien, war der Solidarisierungszwang, den die RAF ausübe: „Warum werde ich gezwungen, mit der Forderung der RAF nach besseren Haftbedingungen, die ich richtig finde, auch ihre Politik, die ich falsch finde, zu unterstützen?“ Piet Bakker Schut fiel dazu nur ein ellenlanges Baader–Zitat ein: Es reiche nicht aus, über Folter zu reden, man müsse einig gegen die Folterer kämpfen... Die Wahrheit der Gefangenen Mitte der Siebziger Jahre, das wurde an diesem Punkt offensichtlich, ist Bakker Schuts Wahrheit von 1986. Nicht zuletzt diese unkritische Übernahme von RAF–Positionen mag Karlheinz Roth dazu getrieben haben, noch einen zweiten, dritten und vierten Anlauf zu unternehmen, die Diskussion nach vorne zu treiben. Wesentliche Probleme, die es heute für die Linke gebe, seien in diesem Buch noch nicht einmal angeschnitten. Viel zulange sei über die inneren Probleme der Linken feige geschwiegen worden. Es gelte jetzt, „die graue zermürbende Stille, dieses graue Schweigen zu durchbrechen“. Doch damit war die Versammlung offensichtlich überfordert. Zu einer konzentrierten Diskussion, in der es auch wichtig gewesen wäre, die neue Anschlagserie und ihre möglcherweise fatalen Folgen für die radikale Linke zum Thema zu machen, kam es nicht. Die vereinzelt vorgetragenen kritischen Anmerkungen zur Hungerstreikstrategie, der Hinweis darauf, daß sich die RAF selbst isoliert habe und die militanten Kämpfe einen anderen Ursprung als die Stadtguerilla hätten, konnten den Abend nicht mehr retten. Und die, die mehr zu sagen gehabt hätten - im Publikum saßen unter anderem auch Astrid Proll und Kurt Groenewold - schwiegen lieber. Eine Diskussion, das ist wohl das Fazit nach der nicht zustande gekommenen Veranstaltung über das Aust–Buch und der zustandegekommenen zu dem von Bakker Schut, kann durch Störungen verhindert werden, aber auch durch beliebiges Drumherumreden. Die Linke besteht, was Stammheim angeht, anscheinend auf Nichtbefassung. Diskussionen mit Bakker Schut finden am 25.10 in Berlin (Quartier Latin), am 26.10 in Göttingen (Buchhandlung Rote Straße), am 27.10. in Stuttgart (Buchhandlung Wendelin), am 28. 10 in Darmstadt (Georg–Büchner–Buchhandlung), am 29.10 in Frankfurt (Ypsioln Buchladen) am 30.10. in Köln (Der andere Buchladen) und am 31.10. in Bremen (Buchladen am Ostertor) statt.