„Bequemer als Beweise“

„Mein Gott“, entfuhr es dem Staatsanwalt Armando Lovares, „die Richter haben uns mit ihrem Urteil eine ganze Kultur in Stücke gehauen - die Kultur des Pentitismus“. Wahr und gleichzeitig nicht wahr, was der Anklagevertreter im Prozeß gegen die „Nuova Camorra organizzata“ da Mitte September 1986 reklamierte: Wahr, insofern die „Kronzeugen“–Kultur Italiens, seit 1979 liebevoll gepflegt, in tausend Stücke gegangen ist: unwahr, daß erst der Freispruch für Hunderte von Cammorra–Mitglieder und Italiens prominentesten Angeklagten, Show–Master Enzo Tortora, die „Kultur“ zerschlagen hat. Tatsächlich hatte Italiens „Pentito“– Gesetzgebung nie das gehalten, was sie versprach. Eingeführt wurde sie auf dem Höhepunkt politischer Anschlagserien, nachdem es 1977 zu mehreren tausend Attentaten gekommen war, und nachdem 1979 mit der Entführung und späteren Ermordung des christdemokratischen Parteipräsidenten Aldo Moro die völlige Unfähigkeit der Behörden zu sinnvoller Ermittlung offensichtlich wurde. Der damalige Ministerpräsident Francesco Cossiga (heute Staatspräsident) setzte 1979/80 eine Reihe von Sondergesetzen durch, deren wichtigste erhebliche Strafnachlässe bei uneingeschränkter Zusammenarbeit von politischen Gewalttätern mit den Behörden versprachen. Nach und nach wurde der Kreis der „pentito“–fähigen Delikte erweitert - zuletzt 1985, als auch „reuigen“ Verbrechern der organisierten Kriminalität Straffreiheit versprochen wurde. Festgesetzt werden darf der Strafnachlaß bzw. die reale Strafe jedoch nicht vom Staatsanwalt, sondern ausschließlich von den Gerichten. Oberflächlich betrachtet, zeigten die Kronzeugen–Gesetze relativ schnell Wirkung - jedenfalls wanderten innerhalb weniger Monate ein paar tausend Personen hinter Gitter, denen „pentiti“ die Teilnahme am bewaffneten Kampf, die Unterstützung krimineller Vereinigungen oder auch - wie im Falle der linksmilitanten Professoren–, Studenten– und Arbeiterorganisation „Autonomia operaia“ - ideologische Anstiftung nachgesagt hatten. „Der Kern der Roten Brigaden und der Prima linea“, resümierte 1981 das Innenministerium zufrieden, „wurde innerhalb von nur eineinhalb Jahren völlig zerschlagen“. Doch so leicht sich die Polizei und die Staatsanwaltschaft mit dem Einsperren mutmaßlicher Brigadisten auch taten - den Gerichten fiel es immer schwerer, die aufgestellten Behauptungen so weit zu verifizieren, daß man daraus haltbare Urteile basteln konnte. Keineswegs erst 1986, beim „unpolitischen“ Camorra–Tortora–Urteil, sondern schon im Januar 1983 stellte der Mailänder Revisionsgerichtshof im Hinblick auf politische „pentiti“ in einem aufsehenerregenden Urteil fest: „Es gab da in den vergangenen Jahren eine Abfolge repressiver Gesetze, Rücknahmen bzw. Abschwächungen verfassungsmäßiger Garantien, den Bau immer speziellerer, und das heißt immer inhumanerer Gefängnisse, den Rückzug der Rechtssprechung in wahre Festungen, wo der Gerichtshof seinerseits von modernen, bis zu den Zähnen bewaffneten Prätorianern argwöhnisch festgehalten wird: es gab die Wiederauflage von Gesetzen der Heiligen Inquisition mit unmoralischen und unsozialen Belohnungen für den Verräter, die sich nach der Zahl der Menschen richtet, die er ins Zuchthaus bringt.“ Konsequenz: Die Mailänder Richter minderten die Strafen für die von „Kronzeugen“ angeschwärzten Angeklagten erheblich ab, sprachen sie in vielen Punkten frei. Ein Verhalten, das mittlerweile auch die landesweit als „hardliner“ bekannten Strafrichter in Rom zu zeigen beginnen. Etwa als sie den von „pentiti“ und Gefängniswachen als Mittäter bei einer Gefängnisrevolte denunzierten und in zwei Instanzen zu 12 bzw. 17 Jahren Zuchthaus verurteilten Guiliano Naria freisprachen - und ihn auch in der Hauptanklage, Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, rehabilitierten. Grund für die Freispruch–Serien: das „Versprechen von Strafminderung und Freiheit wirkt eben psychologisch sehr beflügelnd“, wie Tommaso Mancini, einer der renommiertesten Strafverteidiger von Brigadisten und Autonomen formuliert: in mehr als 80 Anwaltsvereinigung „Magistratura democratica“, „hat der menschliche Faktor zu Übertreibungen, Falschanschuldigungen, zu glatten Lügen, zumindest aber Verdrehungen und leichtfertigen Denunziationen geführt“. Doch der „menschliche Faktor“ spielt nicht nur bei den unter Druck stehenden Ex–Kombattanten des „bewaffneten Kampfes“ eine Rolle: „Viele Staatsanwälte“, erklärt der römische Richte Gianfranco Amendola, „kommen bald auf den Trichter, daß es viel bequemer ist, Kronzeugen aufzutun als Beweise zu sammeln. Und so verlassen sie sich am Ende nur noch auf irgendwelche Aussagen, gleichgültig wer sie macht, unter welchen Umständen, mit welchem Ziel er sie macht.“ Eine Ansicht, die der Gerichtshof von Neapel im „Tortora“–Urteil nahezu wörtlich unterschrieb: „Kronzeugen dürfen allenfalls zur Konkretisierung des durch anderweitige Beweiserhebung gesammelten Materials verwendet werden, nicht aber aus Ausgangspunkt oder gar als Basis für Anklageerhebung und Urteile“, schrieben sie der Staatsanwaltschat ins Stammbuch. Und: „Man muß dem Kronzeugen sogar dann mißtrauen, wenn er sich im Zuge seiner Aussagen selbst anschuldigt“. Und so sprachen sie den auch den obersten Denunzianten gegen Tortora und Co. ganz gegen seinen Willen ebenfalls frei, obwohl er sich ausführlich als Drogenhändler und Gewalttäter dargestellt hatte. Werner Raith