Reagan macht Rückzieher in Genf

■ Nach Reykjavik schält sich europäische Ablehnungsfront gegen Abzug sämtlicher Mittelstreckenraketen heraus / Bonn und London zeigen sich beim Treffen der Nuklearen Planungsgruppe in Schottland als Bremser / US–Unterhändler liegen noch keine klaren Instruktionen vor

Aus Washington Stefan Schaaf

Zehn Tage nach Reagans Rückkehr aus Reykjavik haben die Unterhändler der USA bei den Genfer Rüstungskontrollverhandlungen entgegen Reagans Ankündigung, die Vorschläge lägen auf dem Tisch, noch keine Instruktionen bekommen, wie die in Island gemachten Vorschläge in die Gespräche einzubringen seien. Anweisungen, die am Dienstag nach Genf übermittelt worden sind, legten lediglich eine Obergrenze von 1.600 Interkontinentalraketen und 6.000 Sprengköpfen auf jeder Seite als US–Verhandlungsposition fest. Die Instruktionen aus Washington schwiegen sich über die Zukunft der in Europa stationierten Mittelstreckenraketen aus, ein deutliches Zeichen für die Uneinigkeit, die innerhalb der US–Administration, den NATO–Verbündeten und den Militärs im nordatlantischen Bündnis zutage getreten ist. Zweifel hat nicht zuletzt Kanzler Kohl bei seinem viertägigen USA–Besuch, der am Freitag zu Ende ging, übermittelt. Ohne nukleare Verteidigungskapazitäten sei sein Land der konventionellen Übermacht des sowjetischen Blocks ausgeliefert. Außerdem forderte er bei seinen Gesprächen mit Reagan eine Berücksichtigung der atomaren Kurzstreckenraketen, die in der DDR und der CSSR stationiert sind. Sie müßten in ein Abkommen über die Abschaffung der Pershing II, Cruise Missiles und SS–20 einbezogen werden. Einwände gegen einen völligen Abzug dieser Waffen brachte auch NATO–Oberbefehlshaber Rogers bei einem Treffen mit dem Generalstab der US–Streitkräfte vor. Die Mittelstreckenraketen seien bisher noch das effektivste Mittel, die europäische Verteidigung an die nukleare Abschreckungs macht der USA zu binden. Das gleiche Argument führte auch Kohl bei seiner Pressekonferenz am Mittwoch an. Während öffentlich die sowjetische Regierung kritisiert wird, weil sie nukleare Abrüstung nur im Zusammenhang mit einer Lösung des Streits um Reagans SDI–Programm einleiten will, sind es de facto die NATO– Staaten, die hier eifrig am Pakete– Schnüren sind. Die gleichen Positionen schälten sich auch bei dem zweitägigen Treffen der Nuklearen Planungsgruppe in Schottland heraus: Die Regierungen in Bonn und London agieren als die deutlichsten Bremser bei den Versuchen, nukleare Offensivwaffen aus Europa zu entfernen oder am SDI–Programm zu rütteln. Die konservative Regierung Thatcher fürchtet bei einem umfassenden Abrüstungsabkommen auf ihre eigene nuklear bestückte U–Boot– Flotte verzichten zu müssen. George Younger, der britische Ver teidigungsminister, bezeichnete es im schottischen Gleneagles als eine „extrem gefährliche Situation“, falls sämtliche Atomwaffen abgeschafft würden, „ohne daß zur gleichen Zeit die konventionellen Streitkräfte drastisch reduziert würden“. Doch einige Regierungsbeamte und vor allem die Generalstabschefs haben sich Bedenkzeit ausbedungen. Eine Welt ohne Atomwaffen ist ihnen bisher nicht geheuer, bevor sie sich mit dieser Vorstellung anfreunden können, wollen sie noch einige Planspiele durchexerzieren.