Mißglückter Auftakt

■ Zur Situation der Gewerkschaften nach den Kongressen der IG Druck und Papier und IG Metall

Vierzehn Tage Gewerkschaftskongresse, zunächst der IG Druck und Papier in Essen, dann der Industriegewerkschaft Metall in Hamburg, haben die ganze Ambivalenz aufgezeigt, in der die Gewerkschaften sich derzeit befinden. Die beiden politisiertesten, kampffähigsten DGB–Gewerkschaften, die 1984 das Arbeitszeittabu der Arbeitgeber aus der Defensive heraus in mehrwöchigen Arbeitskämpfen durchbrochen haben, sind im Vorfeld der im Frühjahr 1987 anstehenden nächsten Arbeitszeitrunde stärker und schwächer zugleich. Stärker sind sie, weil sich die damals erkämpfte Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden inzwischen gesellschaftlich durchgesetzt hat, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in manchen europäischen Nachbarländern. Zu Recht können die Gewerkschaften darauf hinweisen, daß die damaligen Horrorvisionen von Bundesregierung und Arbeitgebern inzwischen eindeutig widerlegt sind und ihre eigenen Aussagen über die Machbarkeit und Nützlichkeit von Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung durch Alltagserfahrung in den Betrieben vielfach bestätigt wurde. Arbeitszeitverkürzung als gesellschaftlich progressive Antwort auf die konservative Krisen– und Ausgrenzungsstrategie hat an Glaubwürdigkeit und Rückhalt gewonnen. Dies gilt nicht nur für die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des DGB, nicht nur für die beiden Oppositionsparteien SPD und Grüne, sondern auch für die Basis der Gewerkschaften wie für die Bevölkerung insgesamt. Die Dynamik der konservativen Wende wurde zumindest gebremst, das Kräfteverhältnis zugunsten einer solidarischen, progressiven Gesellschaftspolitik in der Krise stabilisiert. Schwächer sind die Gewerkschaften, weil dieser Erfolg unter dem politischen Trümmerhaufen, den die Neue Heimat–Affaire hinterlassen hat, begraben zu werden droht. Beide Gewerkschaften können sich zwar nach wie vor auf intakte, mobilisierungsfähige Strukturen innerhalb ihrer Organisationsbereiche stützen. Diese können aber nur greifen, wenn es den Gewerkschaften gelingt, die beiden Themen Neue Heimat und Arbeitszeitverkürzung - obwohl sie der politischen Verantwortlichkeit nach in den gewerkschaftlichen Spitzengremien vereinigt ist - in der öffentlichen Debatte strikt voneinander zu trennen. Dies ist schwer - und ist in den letzten vierzehn Tagen gründlich mißlungen. Eigentlich sollten beide Gewerkschaftstage zum Mobilisierungs–Auftakt der kommenden Arbeitszeitrunde werden. Die Aussichten, daß der mißglückten Generalprobe während des Wahlkampfs eine gelungene Premiere folgen könnte, daß es den Gewerkschaften gelingen könnte, durch Politisierung des Themas Massenarbeitslosigkeit die Regierung in die Enge zu treiben, sind schlechter geworden. Nicht nur wegen des Paragraphen 116. Wenn die Gewerkschaften aber 1987 scheitern, dann, erst dann werden wir zu spüren bekommen, was Wende wirklich bedeutet. Martin Kempe