Tunnel beinahe abgesoffen

■ Verkehrsprojekt zwischen Frankreich und Großbritannien für Anleger kaum noch attraktiv / Nach Big Bang:In der Londoner City grassiert die „Tunnelvision“

Aus London Rolf Paasch

In der gerade vom „Big Bang“ der totalen Umkrempelung ihrer Börse erschütterten Londoner City geht eine seltsame Krankheit um: die „Tunnelvision“, den Börsianern sind über Nacht Scheuklappen gewachsen. Die Investoren, die den Kanaltunnel finanzieren sollen, wollen die Vorzüge von Frau Thatchers Jahrhundertbauwerk einfach nicht sehen. Nur mit Ach und Krach gelang es dem anglo–französischen „Eurotunnel“–Konsortium am Stichtag Mittwoch in London, die letzten Millionen für die 70 Mio. Pfund– Anleihe zeichnen zu lassen. Jene 70 Mio. (rund 200 Mio. DM) sind der britische Teil einer bereits zweimal verschobenen 200–Millionen–Anleihe, mit der das erste Stadium des 15 Milliarden–DM– Projektes finanziert werden soll. Im Juli 1987 wollen die privaten Tunnelbauer dann weitere Stücke des noch zu buddelnden Bauwerks für insgesamt 750 Mrd. Pfund auf den internationalen Finanzmärkten verhökern. Dazu müßte die Eurotunnel–Gruppe jedoch erst einmal ihr schlechtes Image abstreifen, daß ihrem Eisenbahntunnel anhaftet und wenn der Tunnel so stümperhaft gebaut wird, wie bisher seine Finanzierung betrieben wurde, dann seien dem England–Reisenden des Jahres 1993 wärmsten die Fähren ans Herz gelegt. Um das Eurotunnel–Konsortium auf Vordermann zu bringen hat Frau Thatcher nun den Leiter des bei der Ausschreibung unterlegenen Kanalbrücken–Projekts, Sir Nigel Broakes, zum neuen Direktor bestellt. Dieser Staatsinterventionismus der Monetarismus– Lady geht ihren Freunden bereits zu weit: Der konservative Abgeordnete Jonathan Aitkin beantragte im Unterhaus eine Dringlichkeitsdebatte über den „verfassungswidrigen“ Druck der Regierung auf die privaten Investoren. Mr. Aitkin freilich wohnt in der Grafschaft Kent; und es sind seine Wähler, die entweder direkt in den Tunneleingang plumpsen werden bzw. die negativen Umweltfolgen des Bauwerks ausbaden müssen. Aber auch vielen der britischen Anleger ist das Risiko steigender Baukosten und falscher Verkehrsprognosen einfach zu hoch. Und eine Dividende steht erst in Aussicht, wenn in sieben Jahren die ersten Waggons ohne Pfützen im Abteil aus dem Tunnel rollen. Kurzzeitiges gefragt Die Investitionsunlust der City liegt jedoch nicht nur an den Sicherheitsrisiken des Projekts, als Geldanlage wie als reales Verkehrsprojekt. Sie erklärt sich ebenso aus den gegenwärtigen Trends an den internationalen Finanzmärkten, besonders in London. Denn wer investiert schon in einen in jeder Hinsicht zweifelhaften Tunnel, wenn er in den Ausschüttungen der gegenwärtigen Privatisierungswelle beinahe ertrinkt. Wer sich beispielsweise in die vor vier Wochen privatisierte schottische Bank TSB einkaufte, dessen Aktien sind bis heute um mehr als 50 zu erwartende Rendite bei der bevorstehenden Verschleuderung der mit Steuergeldern hochgepeppelten Staatsbetriebe „British Gas“ und „British Airways“ dürfte ebenfalls weit über den versprochenen 17 Außerdem wird die am Montag liberalisierte und computerisierte Londoner Börse den Trend zur sorgfältig geschachtelten Kurzzeit–Investition der herumfließenden Cash–Ströme weiter verstärken. Nach dem „Big Bang“ werden noch mehr Gelder in Börsencomputer investiert werden, damit noch mehr Papiergewinne erzielt werden, die mit der realen Welt von Industrie und sozialer Infrastruktur immer weniger zu tun haben. Schon heute katapultiert der Wert gehandelter Papiere bis zum 20fachen des tatsächlichen Handelswerts der Güter, auf denen sie beruhen. Die verarbeitende Industrie Großbritanniens wartet unterdessen vergeblich auf den lebenswichtigen Investitionsschub, um im internationalen Wettbewerb nicht ganz abzurutschen. Daß der Investitionsstreik der City jetzt ausgerechnet Frau Thatchers Vorzeigeprojekt zur „richtungsweisenden“ privaten Finanzierung kosten– und arbeitsintensiver Kapitalprojekte an den Rand des Scheiterns brachte, zeigt nur, daß die freien Kräfte des Marktes keinen Meister mehr anerkennen, nicht einmal mehr ihre Befreierin.