Türkei im Aufbruch

■ Sechs Jahre nach dem Militärputsch bröckelt das von den Generälen diktierte Modell / Die weitere Entwicklung ist noch kaum kalkulierbar / Den größten Unsicherheitsfaktor stellen die Religiösen dar

Aus Istanbul Kurt Ullusch

„Was wir wollen, ist die Gründung einer radikalen Partei. Einer Partei, die hier und jetzt an der Lösung konkreter Probleme arbeitet und nicht alles auf die Tage nach der siegreichen Revolution verschiebt.“ Der Mann, der uns in wenigen Sätzen die wesentlichen Anliegen der zukünftigen „Radikalen“ zu erläutern versucht, würde, ohne groß aufzufallen, in jede deutsche Wohngemeinschaft passen.

Auch die Wohnung selbst, in der gerade ein Vorbereitungstreffen für den Parteigründungskongreß stattgefunden hat, erinnert stark an Berliner oder Pariser Treffpunkte vergangener Studentenbewegungszeiten. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, kontrastiert von Leuten, die mitten im Getümmel konzentriert an einer Übersetzung arbeiten, eingerahmt von einem Interieur, dem die deutsche Szene-Gediegenheit noch völlig abgeht.

Schauplatz der Handlung ist Istanbul im Oktober 1986. Sechs Jahre nach dem Putsch der türkischen Militärs im September 1980 ist der Versuch zur Gründung einer Partei, deren Programm aus Versatzstücken der italienischen Radikalen bis hin zu den bundesdeutschen Grünen zu bestehen scheint, sicher eines der auffälligsten Indizien dafür, daß sich in der türkischen Gesellschaft wieder etwas bewegt. Die Gründungsinitiative ist, wenn auch zahlenmäßig völlig unbedeutend, durchaus kein klandestiner Haufen. Im Gegenteil: Da unter dem Dach der zukünftigen Partei auch Schwulengruppen, Atheisten und Feministinnen sich erstmals offensiver artikulieren wollen, hat sich die Boulevardpresse des Themas bereits dankbar angenommen.

„Öp- Partisi“ (die Kuß-Partei) kommt, schlagzeilten die Bilderblätter und zielten damit vor allem auf die Schwulen, da Homosexualität in der Türkei zwar weit verbreitet, aber gleichzeitig streng tabuisiert ist. „Das hat uns schwer geschadet“, klagt unser Informant, „seitdem haben wir es noch schwerer, in der traditionellen Linken überhaupt ein bißchen ernst genommen zu werden.“ Daß diese Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen ist, bestätigt sich in Gesprächen mit Vertretern anderer linker Gruppen umgehend. „Ach, die Schwulen, was wolltest du denn bei denen?“, ist die übliche Reaktion „ernsthafter“ Linker, wenn sie auf die „Radikalen“ angesprochen werden.

Als Ausdruck verarbeiteter Erfahrung der Niederlage im September 1980 werden sie von der sich seit zwei Jahren langsam, aber sicher neuformierenden türkischen Linken jedenfalls kaum begriffen. Berührungspunkte gibt es allenfalls zu einem Flügel, der sich um die Wochenzeitung Yeni Gündem schart und deren Chefdenker Murat Belge schon mal öffentlich mit den „Radikalen“- Gründern diskutiert. Für Belge und seine Anhänger ist denn auch die Strategie hin zu einer baldigen Revolution obsolet. Was die Türkei braucht, so sein Credo, sei erst einmal eine stabile bürgerliche Demokratie und eine politische Kultur, in der regelmäßige Militärputsche nicht mehr als normal angesehen werden.

Wer regiert?

Da dies bislang nicht der Fall ist, bewegt die politische Szene der Türkei im Stillen der Gedanke, ob man sich eigentlich noch in der Nach-Putsch- oder bereits wieder in der Vor-Putsch-Phase befindet. Seit 1960 hat das türkische Militär mit geradezu statischer Regelmäßigkeit alle zehn Jahre geputscht, wäre also 1990 wieder am Zuge. Dabei ist im Moment noch die Frage, wer eigentlich die Türkei regiert, nicht so ohne weiteres zu beantworten. Im Gegensatz zu vorangegangenen Nach-Putsch-Phasen hat es seit 1980 eine förmliche Aufhebung der Militärdiktatur nicht gegeben. Stattdessen hat das Militär Ende 1983 eine neue Verfassung verabschieden lassen, mit der Putschführer Kenan Evren gleichzeitig zum Staatsoberhaupt gewählt wurde und die Chefs der vier Waffengattungen einen sogenannten Präsidialrat bilden – zwei Institutionen, die formal und faktisch einen entscheidenden Einfluß in der türkischen Politik haben. Evren nennt dies eine der türkischen Gesellschaft angepaßte Form der Demokratie. Tatsächlich ist es nichts anderes als der Versuch, den Einfluß des Militärs institutionell abzusichern und damit regelmäßige Putsche überflüssig zu machen. Nach einer kurzen Konsolidierungsphase auf der Basis der 83er Verfassung, in deren Verlauf das Kriegsrecht – außer in den kurdischen Gebieten des Landes – nach und nach aufgehoben wurde, ist nun die zivile Gesellschaft, angeführt von der alten Politikerkaste, in der Offensive.

An der Spitze dieser Gegenbewegung steht nicht etwa die Linke – weder die parlamentarisch-sozialdemokratische und schon gar nicht die radikale Linke –, sondern die alte Idolfigur des türkischen Konservatismus, Süleyman Demirel. Demirel ist derjenige türkische Politiker, der am klarsten erkannt hat, daß ein abschließender Konflikt mit den Militärs unvermeidlich ist, und der diesen Konflikt offensiv angeht. Nachdem sie ihn zweimal aus dem Amt geputscht hatten, will er nun, gestützt auf eine scheinbar nie versiegende Popularität, den Generälen endlich das Primat der zivilen Politik aufzwingen.

Obwohl durch die Verfassung mit Politikverbot belegt, ist er überall präsent und schaffte es, die im September abgehaltenen Nachwahlen zum Parlament zu seinem persönlichen Triumph zu machen. Zwischen den Stühlen sitzt die amtierende Regierung Özal, ein von den Militärs dome stiziertes Technokratenkabinett, dessen Popularität dahinschwindet wie der Schnee in der Frühlingssonne.

Erste Freiräume Im Zuge dieser Auseinandersetzung haben sich Freiräume aufgetan, die von den Militärs im Moment nicht beliebig zurückgedrängt werden können. Am deutlichsten spiegelt sich dieser Trend auf dem Publikationssektor wider. Die Bestsellerlisten der letzten Wochen weisen allein drei Titel unter den ersten zehn aus, die sich kritisch mit dem Putsch auseinandersetzen. Darunter sind Bücher über die Folteropfer der letzten sechs Jahre, erst jüngst ist ein Buch über die Verschwundenen erschienen.

Auch die Tages- und Wochenzeitungen können längst nicht mehr daran gehindert werden, den Militärs nicht genehme Geschichten zu verbreiten. Die Wochenzeitschrift NOKTA konnte es sich sogar erlauben, ein amtierendes Mitglied des Präsidialrates, den Ex-Luftwaffenchef, der massiven Korruption anzuklagen. Die Ausgabe wurde nicht etwa verboten, vielmehr mußte der General eine Offenlegung seiner Vermögensverhältnisse vor einem Parlamentsausschuß zusichern.

Doch diese Liberalisierungsschwalben machen noch keinen politischen Sommer. In den kurdischen Gebieten herrscht faktisch Krieg, der von den Militärs mit aller Brutalität geführt wird. Nach wie vor sitzen rund 9.000 politische Gefangene unter üblen Bedingungen in den Knästen, noch immer laufen die politischen Massenprozesse vor den Schranken der Militärgerichte, werden Todesurteile en gros verhängt, wenn auch im Moment nicht vollstreckt.

Das von Özal im Sommer durchgesetzte Straferlaßgesetz ist gerade nicht die vorher geforderte Amnestie für die politischen Gegner des Regimes, sondern in der Praxis eher ein Disziplinierungsinstrument für Gefangene. Wer im Knast nicht aufmuckt, kann bis zur Hälfte der Strafe erlassen bekommen, eine Erweiterung der bis dahin geltenden Regelung nach Erlaß von einem Drittel bei guter Führung.

Beeinflußt durch das liberalere politische Klima sind allenfalls die sogenannten Prominentenprozesse, die immer noch aus dem Ausland mitverfolgt werden. So geht in den nächsten Wochen der Prozeß gegen die Spitzenfunktionäre des Gewerkschaftsdachverbandes DISK wahrscheinlich zu Ende, ohne daß einer der Angeklagten, die sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß befinden, noch einmal in den Knast müßte. „Das“, so einer der DISK-Anwälte zur taz, „ist für die Angeklagten zwar erfreulich, das wichtigste Ziel haben die Militärs aber erreicht: Die Gewerkschaft ist zerschlagen und kann nach den jetzt geltenden Gesetzen auch nicht wieder aufgebaut werden.“ Dies wird nach übereinstimmender Meinung aller Gesprächspartner in der Türkei auch erst einmal so bleiben. Denn trotz Ausschaltung der Gewerkschaften und der damit verbundenen Durchsetzung ständig sinkender Reallöhne ist die ökonomische Situation weiterhin desolat. Nicht zuletzt wegen der Mißerfolge auf dem Wirtschaftssektor laufen große Teile des Unternehmerlagers wieder zu Demirel über und setzen Özal damit weiter unter Druck.

Allahs Auferstehung Die Zwickmühle, in der sich der Ministerpräsident befindet, hat ihn dazu bewogen, eine Entwicklung zu fördern, die derzeit die meisten Fragezeichen bei den Prognosen über die weitere Entwicklung in der Türkei setzt. Teils aus eigener Überzeung, teils aus Kalkül hat die Regierung Özal die islamische Bewegung in einem Umfang gefördert, der für die türkische Republik beispiellos ist. Es ist fast ein Treppenwitz der Geschichte, daß sechs Jahre nach dem Putsch, der laut eigenen Aussagen der Militärs auch wegen „bedrohlicher Angriffe auf den Laizismus“ erfolgte, die islamischen Fundamentalisten stärker sind als jemals zuvor.

Noch besteht die Überlegung darin, daß Menschen, die beten, nicht demonstrieren, die Wiederbelebung des Islam in der Öffentlichkeit somit ein latentes soziales Protestpotential binden könnte. Tatsächlich strömen die Massen in die Moscheen und hoffen auf den Ausweg aus dem irdischen Jammertal. Doch schon jetzt ist deutlich, daß die Köpfe der islamischen Fundamentalisten keineswegs gewillt sind, sich von Özal instrumentalisieren zu lassen. Sie wollen mehr als die Wiedereinführung des Religionsunterrichtes oder des Arabischen als Fremdsprache.

Der Imam einer Istanbuler Moschee im von Religiösen dominierten Stadtteil Fatih machte bereits vor einem Jahr mit einem Buch Furore, in dem er die Wiedereinführung des islamischen Rechts forderte. Zwar versuchten die Militärs damals noch, ihm den Prozeß zu machen, doch das Gericht sprach in frei. Heute hat selbst Evren Schwierigkeiten, gegen die Islamisten Front zu machen. Nachdem er erst gefordert hatte, daß auch die Koranschulen sich an die Prinzipien des koedukativen Unterrichts halten müßten, ließ er dies wenige Tage später wieder dementieren. Niemand, so scheint es, traut sich in der Türkei mehr einen echten Konflikt mit den Fundamentalisten zu. Stattdessen wird die Kluft zwischen den verschiedenen Gesellschaften größer. Die Welt der Gründer der „Radikalen-Partei“ ist meilenweit entfernt von der Moschee, die nur wenige Straßen weiter liegt. In welche Richtung sich die türkische Gesellschaft bei diesen gegensätzlichen Strömungen bewegen wird, ist kaum absehbar.