Kindesentführung ins Ausland ganz legal?

■ Über 1.000 Männer entführen jährlich ihre Kinder ins Ausland / Ohne Hilfe der Behörden müssen Frauen um die Rückkehr ihrer Kinder kämpfen

Von Gitti Hentschel

Berlin (taz) - Immer mehr Kinder werden alljährlich von ihren Vätern nach einer gescheiterten Ehe ins Ausland verschleppt. Nur unter größten Schwierigkeiten - wenn überhaupt - können selbst sorgeberechtigte Mütter die Kinder legal in die Bundesrepublik zurückbringen. Das gilt insbesondere dann, wenn das Kind aus einer gemischt–nationalen Ehe stammt und der Vater aus dem islamischen Kulturkreis kommt. Dennoch nehmen staatliche Institutionen, Polizei und Gerichte dieses „legal kidnapping“ oder den „Kindesentzug“, wie eine solche Entführung verharmlosend im Amtsdeutsch heißt, nicht richtig ernst. Bedrohte Kinder und ihre Mütter bekommen von Staats wegen keinen wirksamen Schutz. „Ich werde dich ruinieren, wenn du mich verläßt. Ich nehme dir beide Kinder weg“, hatte Susannes Ehemann, ein erfolgreicher spanischer Geschäftsmann immer wieder bei einem Ehekrach gedroht. Deshalb tauchte sie mit ihren beiden vier– und neunjährigen Kindern bei einer Freundin unter. Das für Susanne zuständige Jugendamt in Berlin tat ihre Angst vor einer Entführung der Kinder als Hysterie ab. Und außerdem: War sie nicht selber schuld, wenn sie einen Ausländer heiratete? Auf rechtlichem Wege konnte Susanne die täglichen Besuche der Kinder beim Vater nicht verhindern. Sie konnte nur vorsorglich die Pässe der Kinder sicher verwahren. Denoch kehrten die Kinder eines Tages nicht zurück. Statt dessen meldete sich ihr Mann aus Spanien. Die Kinder waren bei ihm. Er hatte für sie spanische Zweitpässe besorgt. Das ist jetzt zwei Jahre her. Obwohl Susanne vom Familiengericht sofort einen Herausgabebeschluß für die Kinder bekam und wußte, wo genau Mann und Kinder sich aufhielten, nützte ihr das wenig. Denn mangels internationaler oder bi–lateraler Abkommen muß der Beschluß eines deutschen Gerichts in Spanien nicht vollstreckt werden. Und da Kindesentzug - anders als eine Entführung - nicht als Verbrechen, sondern nur als Vergehen angesehen wird, leitet die Polizei hierbei in der Regel auch keine internationale Fahndung ein. Zudem ist es kein Offizial–, sondern Antragsdelikt. Das heißt, die Ehefrau selbst muß den Mann anzeigen. Die Folge: Verspricht der Mann, das Kind zurückzubringen, nehmen Frauen oft die Anzeige zurück, ohne sie erneuern zu können, wenn der Mann dann die Abmachung bricht. Nicht zuletzt deshalb fordern Doris Bouneira, Vorsitzende des Vereins „Kinderschutz international“ in Köln in diesem Bereich (dem einzigen bundesdeutschen Verein, der Frauen kompetent und wirksam unterstützt) und die Berliner Rechtsanwältin Renate Neupert, Kindesentzug zum Offizialdelikt zu machen und als Entführung zu werten. Ein strapaziöser Kampf Ein Jahr und zwei Monate kämpfte Susanne vor spanischen Gerichten - schließlich erfolgreich - darum, ihre Kinder nach Berlin zurückholen zu können. Welche psychischen Belastungen und Strapazen sie dafür in Kauf zu nehmen hatte, spottet jeder Beschreibung. Schlimmer noch wirkte sich die Entführung auf die Kinder aus. Nach der gewaltsamen Trennung traf Susanne sie in Spanien völlig verunsichert, ängstlich und gleichzeitig zerrissen wieder, denn sie hängen auch am Vater. Noch heute, längst nach Berlin zurückgekehrt, leiden sie an Schlafstörungen und können auch tagsüber nicht allein sein. Susanne ist nur insofern ein Einzelfall, als sie es geschafft hat, die Kinder legal zurückzubringen. Schon 1979 schätzten Rechtsexperten die Zahl der Betroffenen auf 1.000 pro Jahr. Inzwischen dürfte sie sehr viel höher liegen. Allein in Berlin wurden in diesem Jahr 90 Fälle offiziell bekannt. In zunehmendem Maße entführen auch deutsche Männer ihre Kinder nach einer gescheiterten Ehe. Dennoch stoßen Frauen bei Polizei, Jugendämtern und Gerichten noch immer auf Mißtrauen und Unglauben, wenn sie dort Unterstützung oder Schutz gegen eine drohende Verschleppung der Kinder erwarten. Obwohl fast alle Entführungen im Rahmen von Besuchsrechtsregelungen erfolgen, lehnen Familienrichter den Ausschluß des Besuchsrechts selbst bei akuter Bedrohung so gut wie immer ab. Eher akzeptieren sie die Überwachung der väterlichen Besuche, die aber meist nach einiger Zeit aufgehoben wird. Spätestens dann nutzen die Väter die Gelegenheit, gemeinsam mit den Kindern zu verschwinden. Druckmittel Kind Argumentiert wird von Jugendämtern und Gerichten mit dem „Kindeswohl“, dem sie verpflichtet sind und mit dem Recht des Kindes auf beide Elternteile. Nach der Erfahrung der Berliner Anwältin Werra von Swietzkowsky wird dabei der Mutter, die das Besuchsrecht für den Mann aussetzen möchte, unterstellt, daß sie darüber unbewältigte Ehekonflikte austrägt und das Kind als Machtmittel einsetzen will. Daß bei der gesamten Problematik in erster Linie ungeklärte Ehestreitigkeiten den Hintergrund bilden, ist unbestritten. (Allerdings spielt in gemischt–nationalen Ehen zunehmend eine Rolle, daß Männer nach der Scheidung von Ausweisung bedroht sind oder vor der wachsenden Ausländerfeindlichkeit fliehen und dann für sich das Kind genauso wie die Ehefrau beanspruchen.) Doch wieso wird der Mutter hier mehr mißtraut als dem Vater? Angesichts der Gefährdung der Kinder im Falle einer Entführung scheint den - meist männlichen - Richtern und Amtsvertretern der Sinn für Relationen abhanden zu kommen. Das mag insofern nicht verwundern, als es hier um die Sicherung von klaren Männerrechten geht, und viele Richter vielleicht selbst in eine solche Situation kommen könnten. Wohl in jedem Fall ist die psychische Schädigung eines Kindes, das aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen und in eine völlig ungewisse Situation und einen fremden Kulturkreis verpflanzt wird, so massiv, daß zum „Wohl“ des Kindes alles getan werden müßte, um das zu verhindern. In besonderem Maße gilt dies für die Verschleppung der Kinder in „Länder ohne Wiederkehr“, zu denen dann zum Beispiel islamische Länder werden. Dort könnten auch internationale Verträge, die Bundesjustizminister Engelhardt seit Jahren vertröstend in Aussicht stellt, nicht weiterhelfen; dort wären auch die deutschen Botschafter machtlos, auf deren Hilfe das Justizministerium gern verweist. Denn dort herscht ausschließlich Männer– und Vaterrecht. Was das bedeutet, hat Christine Jäger - zu spät - erfahren: Vor sechs Jahren entführte ihr geschiedener Mann, ein Iraner, ihre damals zwei– und dreijährigen Kinder in den Iran. Alle Anstrengungen Christines, die Kinder zurückzubekommen, blieben erfolglos. Von deutschen Behörden erhielt sie überhaupt keine Hilfe - im Gegenteil. Noch während Christine für Nachforschungen und für eine Kontaktaufnahme zu den Kindern mühsam Geld zusammenkratzte, wurde ihr das Kindergeld wegen „Auflösung der Familiengemeinschaft“ gestrichen. Da ihre Scheidung im Iran nichts gilt, kann Christine bis heute nicht dorthin fahren, ohne das Risiko einzugehen, daß ihr Mann dann seine dort herrschende Verfügungsgewalt über sie ausnutzt und ihre Rückkehr nach Deutschland verhindert. „So sehr“, sagt sie bitter, „schützt der deutsche Staat seine Bürger.“ Hinzu kommt, daß ihre Kinder sofort nach Verlassen der Bundesrepublik ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben. .... Inzwischen telefoniert Christine ab und zu mit ihnen, und sie hat auch Post von ihnen bekommen mit Fotos von ihrer in einen Schador gehüllten Tochter. Auch in Christines Fall hatten Gerichte und Polizei ihre Befürchtung einer Entführung der Kinder nicht ernst genommen. Zwangsgelder gegen Mütter Angesichts derartiger Erfahrungen ist es geradezu skandalös, mit welcher Ignoranz und Fahrlässigkeit - oder ist es Bosheit? - sich Jugendämter und Richter noch heute verhalten. - zum Beispiel Regina gegenüber: Vor zwei Jahren verließ die Berlinerin ihren persischen Mann und zog mit ihrem inzwischen schulpflichtigen Sohn in eine eigene Wohnung, be hielt aber weiterhin Kontakt zu ihrem Mann. Als er ihr dann vor mehr als einem Jahr drohte, in den Iran zu gehen und gleichzeitig Paß und Geburtsurkunde des Sohnes verschwunden waren, zögerte sie keine Minute. Sie tauchte mit ihrem Sohn unter und lebt seitdem sozusagen im Untergrund. Konkret bedeutet das Schul– und Hortwechsel für den Sohn; Isolation, denn nur die engsten Vertrauten dürfen wissen, wo sie wohnt; überall Vorsichtsmaßnahmen, Einschränkungen. Durch diesen Zwang zur Heimlichkeit verlor Regina auch ihre Arbeit. Klar, daß ein solches Leben Spuren hinterläßt. Zusätzlich bekommt sie Druck von Jugendamt und Gericht. Unter Androhung eines Zwangsgeldes von 1.000 DM muß sie allwöchentlich den Sohn zu ihrem Mann bringen. Ihr zuständiger Sozialarbeiter im Bezirk Wilmersdorf und der verantwortliche Amtsleiter tun ihre Sorge als Hysterie und Ausdruck von Verfolgungswahn ab. Beide leiten daraus sogar „grundsätzliche Bedenken“ an ihrer Erziehungsfähigkeit ab, denn Regina biete keine Gewähr dafür, daß der Sohn „in angstfreier Atmosphäre“ aufwachse. Seit einer Woche hat sich die Angst verstärkt. Denn alle Bemühungen Reginas, für den Mann unauffindbar zu sein, sind durch die Ignoranz des Familienrichters zunichte geworden. Er hatte vor dem Mann den Namen einer Lehrerin des Sohnes preisgegeben. In der vergangenen Woche tauchte der Vater prompt in der Schule bzw. dem nahegelegenen Kinderhort des Sohnes auf. Regina, die selbst erst seit kurzem wieder Arbeit gefunden hat, brachte den Sohn sofort bei einer Pflegefamilie unter; dank Schulferien mußte er die Woche auch nicht zur Schule. Doch wie soll es weitergehen? Regina kann den Teufelskreis nicht immer wieder von vorn beginnen. Schon Anfang des Jahres hat Regina mit Susanne und anderen betroffenen Frauen beim Peditionsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses um Unterstützung nachgesucht. Seitdem wird ihre Petition von einem Gremium zum anderen geschoben - keiner fühlt sich zuständig. Neuerdings hat sich der Jugendausschuß ihrer Probleme angenommen. Angesichts der schon seit Jahren existierenden Konflikte zeigten dort die Mitglieder aller Parteien - inklusive der Jugendsenatorin Schmalz–Jakobsen - außer großer Betroffenheit über das Ausmaß des Elends erschreckende Unkenntnis und Hilflosigkeit. Überlegt wird nun neben langfristigen rechtlichen Schritten die Einrichtung einer Anlaufstelle für Betroffene. Absurd an diesem Plan ist, daß seit sechs Jahren in Berlin die „Initiativgruppe gegen Kindesentziehung e.V.“ existiert, eine Selbsthilfegruppe von Frauen. Obwohl Ämter, Polizei und Gerichte diese Gruppe faktisch als Anlaufstelle behandeln und betroffene Frauen immer wieder dorthin verweisen, hat dieser Verein noch nie staatliche Unterstützung erhalten, außer einen Anrufbeantworter im Wert von 450 DM. Längst schon hätte er sonst zu einer kompetenten Anlaufstelle werden können.