Und Geschichte wiederholt sich doch

■ Fünfzig Jahre nach dem historischen „Jarrow Crusade“ zieht eine Gruppe Arbeitsloser aus dem Nordosten Großbritanniens in die Hauptstadt

Aus London Rolf Paasch

„Am 5. Oktober 1935 marschierten 207 Männer aus Jarrow unter dem Banner Jarrow Crusade inmitten einer Szene aus großem Enthusiasmus aus ihrer Heimatstadt los. Sie wurden angeführt von Miss Ellen Wilkinson, der Abgeordneten für Jarrow, mit einer Petition, die von 11.572 Personen unterzeichnet war.“ So beginnt Inspektor Vivian Wrights Geheimdienstbericht über den Marsch der Arbeitslosen aus dem Nordosten Englands auf die Hauptstadt. Auf den Tag genau fünfzig Jahre später stehen sie wieder auf dem Marktplatz der kleinen Stadt an der Flußmündung des Tyne, rund zehn Meilen östlich von Newcastle. Die „Special Branch“ (Geheimpolizei) ist diesmal weniger interessiert, dafür verfolgt eine Meute von Kameraleuten und Journalisten den erneuten Aufbruch der Arbeitslosen. Mehr als 2.000 Einwohner Jarrows sind an diesem Sonntag zusammengekommen, um ihren arbeitslosen „Kreuzrittern“ für ihren 300–Meilen–Treck nach London Glück zu wünschen. Vor dem Rathaus herrscht Volksfestimmung Die Gewerkschaft hat für die Kleinen Luftballons spendiert, die örtliche Kapelle spielt ein Ständchen und die greisen Helden, die Jarrow mit ihrem Arbeitslosenmarsch anno 36 auf die Landkarte Großbritanniens setzten, werden vorsichtig auf das Podium gehoben. Im Hintergrund wartet der Doppeldeckerbus der Labour– Partei darauf, den Marschteilnehmern für die nächsten vier Wochen als Umkleidekabine, Kantine und Rednertribüne zu dienen. Doch bevor die Arbeitslosen in Richtung Themse aufbrechen, müssen Lokalgrößen und Gewerkschaftsvertreter noch ihre ritualisierten Polemiken gegen den Süden loswerden. Keiner der Festredner läßt es sich nehmen, jene taktlosen Bemerkungen der Thatcher– Riege zu kritisieren, die das Verhältnis zwischen dem reichen Süden und dem vernachlässigten Norden nachträglicher geprägt haben, als alle regionalen Hilfsprogramme der regierenden Tories. Da ist vor allem die Bemerkung der neuen Gesundheitsministerin noch frisch im kollektiven Gedächtnis, die bei ihrem ersten Krankenhausbesuch nichts Besseres zu tun hatte, als die ölige „Fish & Chips–Diät“ der Nordlichter zu kritisieren. „Mit ihrem Monatsgehalt würde ich auch auf schottischen Lachs umsteigen“, ruft einer der Redner in die Menge. Der Beifall ist ihm sicher. Die verbale und politische Arroganz des Südens ist mittlerweile ebenso Teil der nördlichen Klassenfolklore, wie die Geschichten vom eigenen, stolzen Widerstand. Von letzterem handelt „Heads Held High“ (“Mit erhobenen Häuptern“), das Musiktheaterstück, das mit den Arbeitslosen auf Tour gehen wird. Die Idee ein „Working Class–Musical“ zu schreiben und mit politischen Aktionen zu kombinieren, stammt von Robert Haswell, einem arbeitslosen Studenten der Theaterwissenschaften aus Leeds. „Wir wollten die Arbeitslosigkeit sichtbar machen“, erklärt er der im Rathaussaal versammelten Presse. „Und was lag da näher, als uns der Männer von Jarrow zu erinnern, die mit ihrem Marsch vor fünfzig Jahren ein Zeichen setzten.“ Haswells Vorschlag, den legendären Arbeitslo senmarsch neu aufzulegen, fand nach anfänglichem Mißtrauen sowohl bei den Gewerkschaften als auch in der Labour Partei Anklang. Und auch in Jarrow stimmten alle der inszenierten Wiederholung ihrer Stadtgeschichte zu. Von der Zerstörung einer Stadt „Wo auch immer wir uns hinwandten, überall lungerten die Männer herum, Hunderte, Tausende von ihnen. Die ganze Stadt erweckte den Eindruck, als herrsche hier der ewige, pennylose Sabbath. Die Gesichter der Männer glichen den Masken von Kriegsgefangenen.“ Soweit die Beschreibung der Werftsiedlung durch den englischen Schriftsteller J.B. Priestley auf seiner England–Reise aus dem Jahre 1933. Ein Jahr später schloß auch die letzte Werft in Jarrow, die dem liberalen Abgeordneten Charles Palmer gehörte, endgültig ihre Pforten. Und 1935 wurde mit Ellen Wilkinson erstmal eine Labour–Abgeordnete für Jarrow ins Unterhaus gewählt. Die „rote Ellen“ zog gleich mit einer Delegation nach London, um dort an höchster Stelle gegen die Zerstörung ihrer Stadt zu protestieren. „Jarrow muß seine eigene Lösung finden“, lautete die trockene Antwort des damaligen Premiers Baldwin. Die Arbeitslosenrate stieg auf 73 alle ohne Arbeit und hatten nicht einmal einen halben Penny in der Tasche“, erinnert sich Jimmy Jobbs. „Unser Hab und Gut wanderte nach und nach zum Pfandleiher. Nur die Kinderschuhe von der Wohlfahrt hatten drei Löcher in der Spitze, um ihre Einlösung zu verhindern.“ Als dann im gleichen Jahr auch noch der Plan zur Umwandlung der Werft in ein Stahlwerk scheiterte, beschloß man in Jarrow durch einen Arbeitslosenmarsch nach London auf sich aufmerksam zu machen. Die „Jarrow Crusade“ war allerdings weder der erste noch der größte Arbeitslosenmarsch während der großen Depression. Be reits Anfang der dreißiger Jahre hatte die Arbeitslosengewerkschaft (NUWM) versucht, den schlafenden Leviathan der Arbeitslosigkeit in eine politische Kraft zu verwandeln. Frostiger Empfang für „Jarrow Crusade“ „Die NUWM“, so schrieb Orwell in seiner Straße nach Wigan Pier, „ist eine revolutionäre Organisation, gegründet um die Arbeitslosen zusammenzuhalten.“ Die häufig von der Polizei aufgelösten Massendemonstrationen und Arbeitslosenmärsche waren zwar eindrucksvoll, politisch aber wenig erfolgreich. 1935 versammelten sich in Süd–Wales noch einmal 300.000 Demonstranten, um gegen den verhaßten „Means Test“, die staatliche Kontrolle der Arbeitslosenhaushalte, zu protestieren. Doch damit hatte die organisierte Arbeitslosenbewegung in Großbritannien auch schon ihren Höhepunkt überschritten. Mit dem „Jarrow–March“ dagegen protestierte keine revolutionäre Bewegung, sondern nur eine Stadt gegen ihr Schicksal und die ungerechte Behandlung durch London. Ohne die Unterstützung durch die organisierte Arbeiterbewegung zogen sie los, 200 arbeitsfähige Männer mit der kleinen aber resoluten Ellen Wilkinson an der Spitze. Weder die Warnung des Bischofs von Durham vor dem „revolutionären Druck des Pöbels“, noch die Versuche der Geheimpolizei, eine Berichterstattung der Medien zu verhindern, konnten der Sympathie der Bevölkerung am Wegesrand Abbruch tun. „Auf der Etappe nach Leeds“, so erinnert sich der heute achtzigjährige Jarrow–Veteran Bob Maughan, „gabs damals Roast Beef. So was hatten wir schon lange nicht mehr gegessen.“ Nur bei der Ankunft in der Hauptstadt war der Empfang mehr als frostig. Vier Wochen nach dem Start in Jarrow überreichte Ellen Wilkinson im Unterhaus die Petition mit 68.000 Unterschriften für eine bessere Zufkunft Jarrows. „15 Minuten später“, so liest sich das Parlamentsprotokoll, „wandte sich das Hohe Haus der Lage im Irak zu.“ Spätestens als die Teilnehmer an der „Crusade“ nach ihrer Rückkehr feststellen mußten, daß ihnen zu Hause die Arbeitslosenunterstützung gestrichen worden war, wußten sie, daß sie allenfalls einen moralischen Sieg errungen hatten. Unterwegs - On the Road Gegen Mittag setzt sich die Arbeitslosen–Roadshow dann endlich in Bewegung. Die dreißig ausgewählten Teilnehmer aus den Arbeitslosenhochburgen des Landes, aus Jarrow, Liverpool, Glasgow und Corby werden von Hunderten von Schaulustigen bis ans Ortsende begleitet. In jeder der 23 Städte entlang der Route von 1936 werden zwei weitere wanderfreudige „Müßiggänger“ zu ihnen stoßen um damit die weiterhin wachsende Arbeitslosenschlange Großbritanniens zu symbolisieren. Sie wandern durch das einstige Testgelände der industriellen Revolution zwischen den Mündungen von Tyne und Tees, das jetzt eher einem post–industriellen Schlachtfeld gleicht. Der Marsch geht vorbei an verrosteten Werftkränen, stillgelegten Fördertürmen und leerstehenden Fabrikhallen, an deren Fensterfronten sich jugendliche Langeweile ausgetobt hat. Dazwischen Niemandsland, wo das Alte abgerissen wurde, sich das Neue aber trotz hoher Subventionen nicht ansiedeln will. Sie marschieren durch wenig bevölkerte Geschäftsstraßen, wo Elektrogeschäfte „Mietfernseher mit Zähler für Arbeitslose“ anbieten. In Washington passieren sie das neuerrichtete Nissan–Werk, in dem eine Rumpfbelegschaft und streikunfähige Roboter von japanischen Managern befehligt werden. „Da seht ihr Frau Thatchers Beitrag zur britischen Autoindustrie“, lautet der zynische Kommentar eines Mit–Marschierers. Aber sie kommen auch durch „Englands grünes und liebliches Land“, von den Dichtern besungen und meist von den Tories regiert. In der herbstlichen Grafschaft Nord–Yorkshire werden die arbeitslosen Wanderer sogar von einem konservativen Bürgermeister empfangen. Dann betreten sie die „sozialistische Republik von Süd–Yorkshire“, deren fortschrittliches Regionalparlament allerdings jüngst einer politisch motivierten Verwaltungsreform Londons zum Opfer fiel. Hier im Revier, zwischen Barnsley und Sheffield, beherrscht auch nach der Streikniederlage noch die Bergarbeitergewerkschaft Arthur Scargills das öffentliche Leben. Schulklassen haben frei, um der „Crusade“ zuzuwinken. Vor der Hauptpost der einstigen Stahlmetropole Sheffield müssen die Arbeitslosen eine ältere Lady davon abhalten, ihnen ihre gerade abgehobene Wochenrente zu vermachen. Und in seinem Wahlkreis von Chesterfield hat der Linksaußen unter den Labour–Abgeordneten, Tony Benn, so die Werbetrommel gerührt, daß sich auf der nächsten Etappe gleich 800 Sympathisanten dem Zug anschließen. Ein Leben lang hinter der Arbeit hergelaufen „Jede Menge Babies.“ Rund 200 Meilen und zwanzig Tagesmärsche südlich von Jarrow bahnen sich die Arbeitslosen ihren Weg durch die Fußgängerzone der mittelenglischen Stadt Leicester. Doch nur wenige Passanten schenken dem ungewöhnlichen Demonstrationzug ihre Aufmerksamkeit. Wer die Einkäufer bei ihrem samstäglichen Konsumrausch beobachtet, könnte meinen, hier in den „Midlands“ sei die Volkswirtschaft noch in Ordnung. Doch die Anzeigetafel am Rathaus belehrt den Beobachter eines Besseren. „One in Five“, steht da geschrieben. Auch in Leicester sind 27.800 ohne Arbeit. Es ist ein ganz gewöhnlicher Empfang. Rund 200 Labour–Aktivisten beklatschen die Ankömmlinge in ihren orangen Regenjacken. Jimmy Fitzpatrick, mit 63 der Älteste der Wandertruppe läßt sich in der Tür des Doppeldeckers nieder und zieht sich als erstes die Schuhe aus. Er ist Zeit seines Lebens hinter der Arbeit hergelaufen. Von den Werften in Newcastle zu den Stahlwerken nach Südwales, von dort zur Atomfabrik im nordenglischen Sellafield. Seit fünf Jahren ist er arbeitslos. „Ich werde wohl keinen Job mehr finden“, sagt er als einer von Maggies 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosen. „Ich lauf halt für die Jungen.“ Apathie oder Kinderwagen - die Alternativen für Frauen Eine der Jungen ist Linda Simpson, 19, aus dem benachbarten Corby, wo mit den Stahlwerken auch das Leben aus der Stadt gewichen ist. Sie hat noch nie richtig gearbeitet. „Nur Micky–Mouse– Jobs“, wie die zahlreichen Trainings– und Aufbewahrungsprogramme der Regierung im Volksmund heißen. Warum sie hier mitmarschiert? Weil es zu Hause nichts zu tun gibt. Die meisten ihrer Freundinnen, so erzählt sie, seien bereits apathisch. „Oder sie schieben schon den Kinderwagen vor sich her.“ „Das Erste, auf das ich in den von der Arbeitslosigkeit betroffenen Städten des Nordens stoße, sind Babies, jede Menge Babies, mit sehr jungen Eltern“, schreibt die Journalistin Beatrix Campbell in ihrer Sozialreportage Wigan Pier Revisited auf den Spuren Orwells. Und jene bleichen, oft alleinstehenden Kindmütter, die dem erzwungenen Nichtstun nach der Schule durchs Kinderkriegen entfliehen wollen, sind wohl eines der traurigsten sozialen Symbole des Niedergangs der britischen Regionen in den achtziger Jahren. Zu Hause geht der Kampf weiter Auf den letzten Etappen ihrer Route werden den Teilnehmern des Arbeitslosenmarsches solche Anblicke erspart bleiben. Südlich von Watford, der sozio–geographischen Scheidelinie Großbritanniens, werden sie in den „Stockbroker Belt“ eindringen, wo ihnen höchstens die Ehefrauen der Dienstleistungs–Pendler in staunendem Unverständnis nachschauen werden. Hier in der südöstlichen Ecke des Vereinigten Königreiches, mit dem Job in der Metropole und dem Haus im Grünen, läßt sich für die zwanzig Millionen Bewohner der sogenannten „Home Counties“ das Thatcher– Zeitalter schon aushalten. Denen im Süden mag es beinahe läppisch erscheinen, wenn sich aus Maggies unsichtbarem Vier–Millionenheer zunächst dreißig, später dann siebzig Arbeitslose zu Fuß nach London aufmachen, um ihr Recht auf Arbeit einzuklagen. Wo selbst die von ihnen so an die Macht gewünschte Labour Partei, wie der Kolumnist Anthony Barnett bemerkt, „das Vollbeschäftigungsziel längst aufgegeben hat“. Doch was die „Jarrow Crusade“ bis nach London treiben wird, ist weniger die Hoffnung auf einen sichtbaren Erfolg, als der Stolz, die eigene Geschichte mitgeschrieben, statt kampflos vor ihr resigniert zu haben. „Unser Kampf geht weiter, wenn wir nach Hause zurückkehren“, sagt Jimmy Fitzpatrick als er in Leicester wieder in seine Schuhe schlüpft. Was im Englischen nicht ganz so pathetisch klingt. Nahezu die gleichen Worte hatte Ellen Wilkinson der Menge in Jarrow zugerufen, als sie Anfang November 1936 mit leeren Händen aus London zurückkehrte.