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Basel hielt den Atem an

■ Katastrophenalarm nach Explosion von 800 Tonnen Chemikalien des Schweizer Konzerns Sandoz

Aus Basel Thomas Scheuer

Samstag kurz nach Mitternacht: Feuersäulen schießen in den Himmel über Basel. Auf dem Areal der Firma Sandoz, die südlich von Basel ebenso wie die beiden anderen Basler Chemiegiganten Ciba– Geigy und Hoffmann–LaRoche riesige Nebenwerke betreibt, steht die Halle 956 lichterloh in Flammen. Lagerinhalt: 800 Tonnen Agrochemikalien! Die ungeheuere Thermik reißt pausenlos explodierende Fässer in die Luft, die in dreißig, vierzig Meter Höhe in grellgelbe Blitze ausbrechen, bevor die nächste Glutwolke neue Feuerbälle aufsteigen läßt. Die meisten Fässer sind für den Export bestimmt: Da sie laut Vorschrift einen Sturz aus zehn Meter Höhe unbeschadet überstehen müssen, sind sie aus besonders starkem Material. Daher dauert es lang, bis sie in die Luft gehen, aber dann.... In den frühen Morgenstunden, der Brand hält unvermindert an, löst die Einsatzleitung für Basel und sieben weitere Orte Katastrophenalarm aus. Die Polizei kurvt mit Lautsprecherwagen durch die Straßen: Zu Hause bleiben, die Fenster geschlossen halten und das Radio einschalten. Das Radio meldet: Straßenbahnen fahren vorerst nicht, Autobahn bleibt gesperrt, Kinder nicht in die Schule schicken. Schlußwort: „Keine Panik!“ Im Zeughaus bereitet Militärpersonal vorsorglich die Ausgabe von Gasmasken vor. Der Katastrophenalarm erreicht nicht alle: Um fünf Uhr früh wird eine alte Dame von ihrem Hund zum Gassi gehen gedrängt: Kaum draußen, fängt das Tier zu röcheln und zu kotzen an. Die 160 Gasmasken–bewehrten Feuerwehrleute haben Halle 956 längst aufgegeben. Sie sind voll damit ausgelastet, die „kalten Wände“ zwischen dem Flammenmeer und umliegenden Produktionsgebäuden dicht zu halten: 13 Kubikmeter Wasser pro Sekunde werden aus dem Rhein gepumpt. Fortsetzung auf Seite 6 Kurz nach fünf Uhr ist der Brand unter Kontrolle. Dafür setzt jetzt starke Rauch– und Gasentwicklung ein. Es stinkt bestialisch nach Knoblauch und faulen Eiern. In einem Basler Krankenhaus wird eine Frau eingeliefert, die unter offenem Fenster geschlafen und die Sirenen überhört hat: Ihr ist schlecht, der Arzt stellt rasenden Pulsschlag fest. Den ganzen Samstag über klagen viele Leute über Halsbrennen und Augenbeißen. Sonst werden jedoch keine Verletzten gemeldet. Um sieben Uhr löst sich die Spannung bei der Einsatzleitung: Die Stinkwolke, so habe sich herausgestellt, sei medizinisch unbedenklich, ebenso die rötliche Brühe, die aus manchen Wasserhähnen tropft. Nicht für die Fische im Rhein: Abertausende Liter Löschwasser haben Chemikalien ins Grundwasser und vor allem in den Rhein gespült, auf dem den ganzen Tag über rötlich–ölige Flecken treiben. Skeptisch kreisen die Möven über den toten Fischen, ohne zuzu packen. Der gesamte Bestand an Eschen, eine besonders auf sauerstoffreiches Wasser angewiesene Fischart, ein Jahrzehnt mühevoller Aufzuchtarbeit, sei über Nacht im Arsch, erklärt der Basler Fischereiwart. Am Samstag mittag auf der Mittleren Rheinbrücke: Es stinkt erneut bestialisch; einsetzender Regen hat die Luftschichten mit den Stinkgasen wieder nach unten gedrückt. In den Straßenbahnen liest man das Extrablatt der Basler Zeitung mit einem großen Farbfoto unter der Überschrift: „Eine Region hält den Atem an“. „Größtenteils harmlos“ seien die freigewordenen Stoffe, teilen die Sandoz–Manager erwartungsgemäß mit: Stickoxyde, Schwefeldioxyde, auch Phosphor „in kleinen Mengen“, der beim Verbrennen zu Phosphorsäure oxydiert. „Ein sehr breites Spektrum organischer Verbindungen“, räumt ein beamteter Toxikologe immerhin ein. Was den Brand auslöste, ist den Fachgurus vorläufig ein „völliges Rätsel.“ Die Basler jedenfalls scheinen nach wie vor von einem ungetrübten Gottvertrauen in ihre drei Chemie–Giganten erfüllt, von denen jeder fünfte Arbeitsplatz abhängt, die den größten Teil des lokalen Steueraufkommens bestreiten und deren klassisches Mäzenatentum die städtischen Museen vor kulturellen Kostbarkeiten strotzen läßt. Schwer nachvollziehbar ist für Nicht–Basler der Widerspruch zwischen dem die gesamte Bevölkerung und Regierung einschließenden Widerstand gegen das in der Nähe geplante AKW–Kaiseraugst und umweltpolischen Pioniertaten (z.B. im Nahverkehrswesen) einerseits und der uneingeschränkten öffentlichen Akzeptanz der großen Chemie–Küchen andererseits. „Es hat doch alles funktioniert: Die Gasmasken, die Meßtrupps, das Alarmsystem, alles,“ erklärt mir ein älterer Herr funkelnden Auges die chemieseelige Mentalität seiner Mitbürger. Nur 300 bis 400 junge Basler finden sich am Samstagabend zu einer spontanen Protestkundgebung auf dem verregneten Marktplatz ein. „Hundert Jahre Basler Chemie - schleichender Tod mit Arbeitsplatzgarantie“ und „Euer Profit stinkt zum Himmel“, heißt es auf Transparenten.

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