„Herr! Laß den Kelch an uns vorüber gehen“

■ Nach dem Chemie–GAU im Baseler Sandoz–Werk wälzt sich ein 40 Kilometer langer Giftteppich durch das Rheinbett / Rheinwasserwerke schalten ab / Ablagerungen an Ufer und Rheingrund befürchtet / Nordsee akut bedroht

Berlin (taz) - Daß der „alte Vater Rhein“ - zumindest was die ersten hundert Kilometer „Fluß“ anbelangt - in seinem „Bett“ inzwischen meuchlings ermordet wurde, haben Wasserfahnder aus der Schweiz gestern festgestellt. Selbst unter moosbewachsenen Steinen sei „kein Leben mehr“ festzustellen. Die Giftwelle nach dem Chemie–GAU in der Baseler Firma Sandoz wälzt sich mit einer Geschwindigkeit von fünf km/h auf die Nordsee zu. Die Giftflut, so informierte „NR 3“ seine Hörer/innen, befinde sich zur Zeit noch auf der Höhe Karlsruhe–Maxau und werde im Laufe des Tages hessisches Gebiet erreichen. Doch die Hessen sind vorbereitet. Schon am Montag stellte das hessische Rheinwasserwerk Schierstein die Wasserentnahme ein. Wie Dr. Hubert Berger, Leiter der Abteilung Wassergewinnung bei den Stadtwerken Wiesbaden, auf Nachfrage der taz mitteilte, sei „wenn das nicht länger als zehn bis vierzehn Tage dauert“, die Wasserversorgung der Bevölkerung nicht gefährdet. Schierstein arbeite ohnehin mit zwei Aufbereitungsanlagen (Grundwasser und Rheinwasser), so daß kurzfristig „jederzeit“ auf die Rheinwasser– Aufbereitung verzichtet werden könne. Berger und seine „Männer vor Ort“ rechnen damit, daß der „ganze Spuk“ in rund zwölf Stunden „vorbeigezogen“ sein wird. Daß danach noch Rückstände metallischer Substanzen - wie etwa Quecksilber - das Rheinwasser dauerhaft belasten könnten, hält der Experte für „wenig wahrscheinlich“. Berger: „Mir liegen erste Ergebnisse von Meßstationen vor, die von der Giftwelle bereits passiert wurden. Dort wurde nichts Außergewöhnliches mehr festgestellt.“ Der rund vierzig Kilometer lange Sandoz–Giftteppich wird sich also in etwa zehn Tagen in die holländische Nordsee ergießen. Phosphorsäure und Quecksilberhydroxid etwa, die am Oberrhein Tausenden von Fischen das Leben kosteten, gefährden dann das gesamte Öko–System an der Küste. Das Freiburger Öko–Institut arbeitet zur Zeit fieberhaft an der genauen Analyse des toxischen Potentials der Giftschwemme. Fest stehe bisher lediglich, daß die hochtoxische „Phosphorsäure“ und auch organische Quecksilberverbindungen Bestandteile der Giftschwemme sind. Die Biochemikerin des Öko–Instituts, Birgit Grahl, hält entgegen den Darstellungen von Dr. Berger (Wiesbaden) Langzeitschäden durchaus für möglich. Schwebepartikel, die der Fluß transportiert, würden sich ständig an Ufer und Rheingrund ablagern. Der Sprecher des hessischen Umweltministers Fischer, Georg Dick, wies gegenüber der taz darauf hin, daß Hessen und Rheinland–Pfalz zusammen derzeit Wasserproben von den Spezialisten der BASF in Ludwigshafen analysieren lassen würden. In diesem Zusammenhang richtete auch Dick schwere Vorwürfe an den Chemiegiganten Sandoz, der nur „scheibchenweise“ Informationen weitergegeben hätte. „Man kann im Grunde den Kelch nur an sich vorüberziehen lassen und auf die Verdünnung hoffen“, meinte Dick abschließend. Auch die Wasserwerke am nordrhein–westfälischen Rheinabschnitt haben gestern und vorgestern teilweise vorsorglich die Rheinwasserentnahme eingestellt. Die Zeitspanne, in der das Rheinwasser über Rheinufer– Brunnen in die Trinkwasserversorgung gelangt, beträgt dabei eine Woche bis zu einem Jahr. Die „vorsorgliche Maßnahme“ muß sich also unter Umständen auf einen sehr langen Zeitraum erstrecken, wenn die Wasserwerke nicht genauere Informationen darüber bekommen, wie die hochgiftige Stoffe sich in der Trinkwasseraufbereitung verhalten. Eben zu diesem Problem bekommen die Wasserwerke bisher keinerlei Informationen. „Natürlich fühlt sich jetzt keine Behörde zuständig“, schimpft der Direktor der Arbeitsgemeinschaft Rheinwasserwerke, Winter. „Informationen über die giftigen Stoffe bekommen wir per Telefon und können dabei nicht mal die Namen zuverlässig unterscheiden.“ Die Informationskette durch die Instanzen funktioniert zwar, aber alle Beteiligten drücken sich vage aus, um bei der unklaren Informationslage keinen Fehler zu machen. Die Wasserwirtschafts ämter oder die Wasserschutzpolizei informiert den Internationalen Alarmdienst Rhein, der wiederum macht den Landesbehörden Mitteilung. Die Regierungspräsidenten treffen dann den Wasserwerken gegenüber Anordnungen. In diesem Fall haben sie die Form der Empfehlung gewählt. Am Sonntag morgen wurde den nordrheinischen Wasserwerken mitgeteilt: „Es gelangen gefährliche Stoffe in den Rhein. Eine Analyse steht noch aus. Es wird dringend abgeraten, Rheinwasser für die Trinkwasserversorgung zu entnehmen.“ Dienstag nachmittag wurde die Formulierung noch weiter entschärft: „Wegen des noch unbekannten Gefährdungsgrades wird empfohlen, das Rheinwasser möglichst lange im Untergrund zu belassen und die Aufbereitungsanlagen auf größte Wirksamkeit einzustellen.“ Eine solche Anordnung zeugt nach Ansicht von Winter von größter Unkenntnis in den Behörden. Kaum eines der Wasserwerke hat die Möglichkeit, die Wirksamkeit ihrer Wasseraufbereitung zu verstellen. Zum Glück habe man in den letzten 15 Jahren die schlechte Wasserqualität des Rhein eingestellt und könne sich jetzt außerdem auf andere Wasserquellen stützen, sonst könnte man diese „bisher gewaltigste Verunreinigung des Flusses“, so Winter, nicht überstehen. Klaus–Peter Klingelschmitt & Imma Harms