Das „moralische Irresein“ der Frau

Heute ist die Differenz zwischen dem Blick der Frau auf den Mann und dem Blick des Mannes auf sich selbst größer und unleugbarer. Angesichts der universellen Gewalttätigkeit der Männergesellschaft, materialisiert in todbringender Technologie, kann die Aufrechterhaltung der Frauenmoral nurmehr als persönliche und kollektive Selbsttäuschung gelingen. Der notwendige Abschied der Frauen von der Scheinheimat Mann entläßt sie als Vagabundinnen auf ein unbekanntes Territorium. ine Untersuchung von Tötungsdelikten amerikanischer Frauen des 19. Jahrhunderts an ihren Ehemännern kommt zu folgendem Ergebnis1: Die meisten Verfahren gegen Giftmörderinnen, die ihre Männer beseitigten, endeten mit Freispruch. Dieses unerwartete Urteil zugunsten der Frauen beruhte darauf, daß die richtenden Männer sich kein Motiv vorstellen konnten, aus dem heraus eine Frau ihren Mann umbringen könne. Die Männer - Richter, Ankläger, Verteidiger, Schöffen - gingen von der hartnäckigen Überzeugung aus, daß Frauen von Natur aus, und so lange sie normal sind, Männer lieben. Diese Annahme führte dazu, konsequent zu ignorieren, welche Lebensbedingungen, welche Gefühle Frauen veranlaßten, Arsen oder Strychnin in den Tee, die Whisky–Flasche oder die Hühnersuppe des nichtsahnenden Gatten zu mischen. Der Freispruch war Ausdruck des Schutzinteresses der Männer, und zwar gegenüber ihren eigenen Vorurteilen über sich selbst. Die Normalität dieser Frauen, die weder wie Hexen noch wie Verrückte aussahen und ein ebenso ordentliches wie schweres, also durchschnittliches Leben nachweisen konnten, ihre Nichtunterscheidbarkeit von allen anderen unauffälligen und treusor genden Ehefrauen, machte ihre Verurteilung als Männermörderinnen unmöglich. Die öffentliche Verurteilung wäre die offizielle Bestätigung ihrer Tat gewesen, damit auch die öffentliche Bestätigung der Tatsache, daß alle durchschnittlichen Frauen ihre durchschnittlichen Männer unerträglich finden können. Diese zwingende Schlußfolgerung hätte eine so umfassende Infragestellung des Geschlechterverhältnisses nach sich ziehen müssen, daß jeder Mann, der auf der Unveränderbarkeit seiner Person und seiner Vorrechte beharrte, es vorziehen mußte, durch einen Freispruch der Frau die ganze Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen und so unspektakulär wie möglich aus der Welt zu schaffen. Männer fanden es beruhigender, einem Mann ein solches Verbrechen anzulasten, die möglichen Beweggründe der Frau aber zu kaschieren. Es war wohl besser, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Ihr Freispruch war der Preis, den die Männergesellschaft dafür bezahlte, sich weiterhin der Illusion hinzugeben, alle Frauen seien auf ihrer Seite. 541 bekannt gewordene, durch Gift herbeigeführte Todesfälle allein in England in zwei Jahren: für Männer eine furchterregende Bilanz, die die Angst vor weiblicher Rache und gleichzeitig den Zwang, diese zu ignorieren, in Gang setzt. Und so sind bei jeder Erwähnung eines besonders abscheulichen Vergehens gegen die weibliche Unbescholtenheit Männer schockiert, nicht über das Verbrechen, sondern über seine Enthüllung. Ein Mittel der Nichtenthüllung war die Krankheitsdiagnose „moralischer Irrsinn“ oder „moralisches Irresein“: ein unwiderstehlicher Impuls, der die moralische Orientierung der Frau plötzlich außer Kraft setzte. Ein zeitweiliger moralischer Defekt, ein moralisches Ausrasten der Frau, bei dem sie plötzlich ihre festen Maßstäbe von Gut und Böse durcheinanderwirbelt, ansonsten allerdings intakt bleibt, denn sie scheint ja weiterhin den Mann zu lieben, den sie vergiftete, sie weint bei seiner Beerdigung, sie handelt weiter überlegt und hausfraulich im Lot, sie erzählt nichs Übles über den Gatten, die Nachbarn erfahren nichts Nachteiliges. Alles ist eigentlich in Ordnung. Nur besorgte sie sich eines Tages Rattengift, wartete ab, bis es ihm, bedingt durch Alkohol oder durch einen verdorbenen Magen, körperlich unwohl war und half bei dieser Gelegenheit mit ihrem Fläschchen nach, nachdem der Hausarzt bereits den Darmkatarrh oder die Magenverstimmung festgestellt hatte und über die plötzliche, unheilvolle Verschlimmerung des Zustandes seines Patienten lediglich etwas überrumpelt war oder peinlich berührt über die eigene offensichtliche Fehldiagnose. Die Begrifferfindung „moralisches Irresein“, die die Frau - zeitweise - im juristischen Sinne entlastete, ist insofern offenherzig, als sie viel verrät. Sie verrät das vollkommene Unverständnis einer Gesellschaft gegenüber der realen Situation der Frau, die sich gegen Gewalt zur Wehr setzt, indem sie sich des Subjekts der Gewalt zu entledigen sucht. Sie verrät auch den Horror des Mannes vor der Möglichkeit, Frauen könnten Konsequenzen aus einer Grundbefürchtung des Mannes ziehen, nämlich der, daß sie den Mann nicht lieben. Daß Frauen Männer ablehnen können, das muß undenkbar bleiben. Frauen leiden zwar unter Männern, das ist ihre weibliche Profession, aber daß dieses Leiden zur Ablehnung, zur Verneinung des Mannes führen könne, das darf nicht einmal eine sprachliche Form finden. Das moralische Modell Die Diagnose „moralisches Irresein“ verrät also gleich ein ganzes ideologisches Gebäude, das der Mann über die Frau warf, nämlich die Struktur der patriarchalen Frauenmoral. Gemäß dieser Moral ist sie ein „von Natur“, also im gesunden Zustand moralisches Wesen, ja, ein Wesen mit einer höheren Moral ausgestattet als der Mann, weil sie in der Lage ist, den Mann zu lieben unter jeder Bedingung: dennoch. Die Gewalt der Männer wird so zur Herausforderung der Liebesfähigkeit der Frau. Trotz allem, was er ihr antut, verletzt sie ihn nicht, tritt sie ihm nicht zu nahe, läßt sie ihn sein, wie er nun mal ist und will ihn trotzdem. Die Moral der Frau erweist sich in der Liebe zum Mann mit allen dazugehörenden Enttäuschungen, Schlägen, Verwundungen. Erst sie machen die Liebe wirklich wertvoll, sie machen sie aus. Die „höhere Moral“ der Frau, von Männern attestiert, hat ihren Grund darin, daß Frauen das andere Geschlecht vergöttern oder aber, wenn dieses sich allzu offensichtlich als wenig göttergleich erweist, alles zu tun, es diesem Bilde ähnlicher zu machen: Die Frau ist dazu erschaffen, so fand man, die Fehler des Mannes auszugleichen und ihn somit zu einem vollkommeneren Menschen zu machen, als er es sonst wäre. Eine Frau durfte ihren Mann niemals maßregeln oder mit ihm streiten, sondern mußte mit ihrem Verhalten seine Mängel kompensieren. Gemäß diesem Auftrag war die Frau seit der frühkapitalistischen Gesellschaft und der bürgerlichen Familie moralisches Modell: die moralische Mutter ihrer Kinder und die moralische Führerin ihrer Männer. Kriterium für die moralische Funktion der Frau war wiederum ihre Fähigkeit zur Bejahung. Frauenmoral heißt Männerbejahung. Von allen Frauen aller Schichten wurde und wird eines erwartet: daß sie ihre Männer nicht nur mit Nahrung und einem gemütlichen Heim versorgen, sondern sie moralisch aufrüsten und das heißt schlicht, ihnen tagtäglich vermitteln: es ist gut so, du bist gut so, mach weiter so, es gibt keine Einwände gegen dich, du bist in Ordnung, du bist tadellos. Eine Frau, die ihren Moralkodex glaubhaft zu leben verstand, trat den Beweis an für die Richtigkeit der männlichen Geschlechterideologie der bürgerlichen Gesellschaft, nach der Frauen die ganz anderen Menschen sind als Männer. Mit ihrer Moral der Bejahung bewies die Frau, daß sie im Besitz von Tugenden ist, die Männern einfach nicht zur Verfügung stehen, und die sie deswegen auch nicht erstreben müssen, denn die Natur hat sie nur den Frauen geschenkt. Hilfsbereitschaft, Selbstbeherrschung, Selbstverleugnung, Friedlichkeit sind demnach nicht Ergebnisse der Willens– und Gefühlsanstrengung der Frau, kein Ergebnis der Arbeit an ihrer eigenen Person, kein Ausdruck der Unterwerfung unter Unvermeidliches, kein Ausdruck von Angst, kein Ausdruck des raionalen Kalküls, im Falle eines Streites in körperliche Gefahr geraten zu können und jenen somit möglichst zu vermeiden; vielmehr Ausdruck ihres schönen weiblichen Wesens, zu dem sie nichts kann. So sind Frauen auch nicht Menschen, die moralisch handeln, sondern sie sind moralisch. Einfach so. Sie erbringen keine Leistung, sie fällen keine Entscheidungen, sie bringen keine Opfer, sie unterscheiden nicht zwischen schützenden und zerstörenden Handlungen. Damit muß der Frau auch keine besondere Achtung für ihr anstrengendes Wohlverhalten gezollt werden, keine besondere Dankbarkeit. Ihr liebenswertes, harmloses und angenehmes Verhalten ist nichts Heroisches, ist nicht ihr Verdienst, es ist nichts als Triebbefriedigung, Instinkterfüllung. Die Ursachen der seltenen Verfehlung männerbejahender Instinkte wurden so auch niemals da gesucht, wo sie zu finden gewesen wären, im Verhalten des Mannes, sondern in einer anfallsartigen und meist reversiblen Erkrankung des moralischen Immunsystems, einer Erkrankung, unter der die Erfahrung von Männergewalt pathologischerweise nicht zur Mehr– und Dennoch–Liebe führt. „Moralisches Irresein“ der Frau, das war ein Attest, welches Frauen zeitweise vor dem Schafott oder dem lebenslangen Gefängnis rettete, damit Männer sich weiterhin der Illusion hingeben konnten, sie werden im Normalfall von Frauen geliebt, was auch immer sie diesen antun. „Moralisches Irresein“ war gleichzeitig ein Deckname für das Phänomen, daß Frauen ihre bejahende, duldende, verzeihende oder auch nur ignorierende Haltung gegenüber der Gewalt des Mannes aufgeben können; daß Frauen die ihnen von der Männergesellschaft abverlangte Frauenmoral verlassen können und sich entschließen, Grundüberzeugungen des Mannes zu verletzen. Diese Nicht–Bejahung ist wohl die gefährlichste Bedrohung seiner persönlichen und gesellschaftlichen Existenz, eine Bedrohung, die so an die Grundfesten der männlichen Selbstdefinition rührt, daß sie möglichst unbesprochen bleiben sollte, von magischem Schweigen verhüllt, geschützt vor der sonst so wild wuchernden männlichen Neugierde. Ist das einfach eine Anekdote aus dem 19. Jahrhundert? Kann der Mann weiterhin die Täuschung aufrechterhalten, er werde unter allen Umständen von Frauen geliebt? Halten Frauen weiterhin den Anschein aufrecht, sie würden sich, abgesehen von kurzen aber heftigen moralischen Absencen, an die Regel der Bejahung des Mannes halten? Das unbegriffene Gelächter Ein Sprung in die Gegenwart, zunächst in die metaphorische eines Film der Niederländerin Marleen Gorris: „Die Stille um Christine M.“ Drei Frauen, die sich zuvor nie begegnet waren, bringen eines Vormittags beim Einkaufen in einer Boutique einen ihnen vollkommen unbekannten Mann, den Boutique–Besitzer, um. Sie tun das nicht geplant, nicht abgesprochen, nicht vorbereitet, nicht in spontaner Notwehr, nicht im Affekt, nicht in einem rasenden gemeinschaftlichen Anfall von Mordlust, vielmehr kühl, ruhig, schweigend, langsam, fast selbstverständlich, beiläufig. Ebenso ruhig verlassen sie anschließend den Laden, jede in ihre Richtung. Den Rest des Tages tut jede etwas, was sie immer schon mal tun wollte. In der Haftanstalt treffen sie sich wieder. Die nun einsetzende Suche nach den Motiven dieses Mordes findet keine verbalisierte Antwort. Die drei Angeklagten haben dazu nichts zu sagen. Sie schweigen, oder sie erzählen von allem Möglichen, aber zu den Motiven äußert sich keine auch nur mit einem einzigen Wort. Die psychiatrische Untersuchung, mit der eine wohlwollende, bemühte und kompetente Fachfrau betraut ist, kommt zu dem Ergebnis: es sind „normale“ Frauen verschiedenen Alters aus verschiedenen sozialen Schichten. Bei der Gerichtsver handlung weigert sich so auch die Psychiaterin, die Frauen als verrückt zu begutachten oder für unzurechnungsfähig zur Zeit der Tat zu erklären. Sie besteht darauf: es sind ganz normale Frauen. Das stößt auf fundamentale Irritation des Gerichts. Auf die spröde Bemerkung der Gutachterin, das Gericht möge bei der Urteilsfindung beachten, daß die Täterinnen Frauen sind, meint der Staatsanwalt: Ja, dies sei ihm zwar nicht entgangen, sei aber juristisch belanglos; der Ermordete hätte ebenso eine Frau sein können und die drei Mörderinnen ebenso drei Männer. Dieser Satz ist Auslöser eines Gelächters, zunächst einer der Angeklagten, dann der zwei ten, der dritten, schließlilch eines unbändigen Gelächters sämtlicher Frauen im Gerichtssaal. In diesem Gelächter werden die Mörderinnen, immer noch lachend, abgeführt. Die hilfslose und aggressive Suche des Gerichts nach den Beweggründen der Tat findet in diesem Gelächter ihre einzige sprachlose Antwort. Das Bedrohliche für Männer an dieser unheimlichen Verschwörung der Frauen bleibt ihre Normalität. Sie sind nicht geistesgestört, nicht manisch, nicht aufsässig, nicht schwachsinnig, nicht heruntergekommen, sie haben Kinder oder Männer, sie sind intelligent oder redselig oder verschwiegen. Sie lebten als durchschnittliche Frauen und: sie haben einen Mann umgebracht. Dieses gleichzeitig zu sehen, ist für einen Mann unerträglich, unbegreifbar, das kann nicht sein. Jede Frau, einschließlich der eigenen, könnte somit eines Tages zum Kleiderbügel oder zum Garderobenständer greifen. Jede Frau könnte jederzeit unerwartet auf die Idee kommen, ihen Ehemann, Freund, Chef oder irgendeinen fremden Mann zu beseitigen oder auch nur abschaffenswert und entbehrlich zu finden, auch nur den Wunsch nach seinem Nichtvorhandensein zu hegen. Und das ohne Grund, denn dieser Ermordete hatte ja nichts verbrochen, er hatte nur eine Frau beim Ladendiebstahl entdeckt und diskret überführt. Und die anderen Männer des Films: einer hatte seiner Frau nicht mehr viel zu sagen, ebensowenig wie sie ihm, ein anderer war dümmer als seine Sekretärin, hielt aber viel auf ihre Tüchtigkeit; ein dritter hatte auf alles schon Antworten, bevor es überhaupt möglich war, eine Antwort zu haben; andere verbrachten die Nächte mit ihren Frauen so, daß die letzteren zur Wiederholung keinen Anlaß sahen. Also, ganz durchschnittliche Männer. Wo bleibt das Motiv? Diese verständnislose Frage ist die eigentlich entlarvende Frage. Verständliche Motive wären zum Beispiel Eifersucht oder enttäuschte Liebe. Sie beweist die Heftigkeit eines Gefühls für den Mann, sie beweist, daß eine Frau verrückt nach einem Mann ist. Oder Geldgier. Sie beweist, daß eine Frau schließlich den gleichen Dingen nachjagen kann, wie Männer das tun. Oder Notwehr. Sie beweist, daß auch Frauen wie richtige Männer im Zweikampf zum Schutz von Körper, Ehre und Eigentum ihr Leben aufs Spiel zu setzen bereit sind. Diesem Mord aber fehlt jedes Motiv. In Wirklichkeit hat es diese Geschichte nie gegeben. Sie ist ein Entwurf des Widerspruchs zwischen den Geschlechtern, der immer deutlicher ins Bewußtsein gerät: der Differenz und Distanz zwischen der Sicht der Frau auf den Mann einerseits und der Sicht des Mannes auf sich selbst andererseits. Eine Metapher: Frauen bringen einen Mann um, Männer können nicht begreifen, warum, und diese Frauen sind bei vollem Verstand und im Besitz aller Vermögen. Sie bringen ihn stellvertretend für alle um. Es ist die generalisierte Ablehnung, nicht die individuelle Notwehr oder Rache gegenüber einem einzelnen Übeltäter. Ein stellvertretender Akt gegen etwas, das Männer gemeinsam haben: den Frauen etwas zu nehmen, alles im Besitz zu haben, über alles zu bestimmen und zu verfügen und kein Bewußtsein davon zu besitzen, was das für Frauen bedeutet, auch kein Bewußtsein davon, was Frauen eigentlich von ihnen halten. Die neue Gewalt Von der metaphorischen Gegenwart des Films in die reale Gegenwart: Die normale Gewalt in den Männergesellschaften hat seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eine neue Form angenommen. Sexuelle Gewalt, Mißhandlung, Vergewaltigung, das sind historisch alte, in immer neuen Gewändern auftretende „Umgangs“arten mit Frauen. Darüber hinaus aber ist Gewalt nicht nur eine, die der einzelne Mann der einzelnen Frau antut, die in seine Verfügung gelangt oder sich in seine Verfügung begibt. Männergewalt hat eine generalisierte Formgebung gefunden, die sie unabhängig von dem einzelnen gewalttätigen oder friedlichen Individuum Mann hat werden lassen. In diesem Jahr z.B. hat sie sich vor allem für die europäischen Länder materialisiert in unsinnlicher, unsichtbarer Form durch erneut freigewordene Radioaktivität, Folge eines Denkens, daß alles, was machbar auch vertretbar sei. Am Beispiel der Plutoniumwirtschaft wird deutlich, wie diese Erde, unser Wohnort, dabei ist, durch die großen Männertechnologien gewaltsam zugrunde gerichtet zu werden. Ich will das Bekannte nur anhand einiger Schlaglichter vergegenwärtigen: Die Kraftwerkunion, Deutschlands größter Produzent von Kernkraftwerken, dessen Vorsitzender noch vor wenigen Wochen verkündete, nach Tschernobyl sei die Welt eine E andere geworden, bereitet zur Zeit den Export von vier Kernkraftwerken vor: nach Spanien, Argentinien und Brasilien und rechnet mit weiteren Aufträgen nach Jugoslawien, Ägypten und China. Wenn man, wie zu erwarten, von demnächst 500 Kernkraftwerken auf der Erde ausgehen muß und von den berechneten „Störfall“–Wahrscheinlichkeiten, dann muß mit einem GAU in jeweils 20 Jahren gerechnet werden. Das bedeutet die kalkulierte Inkaufnahme von drei bis vier „größten anzunehmenden Unfällen“ innerhalb eines Menschenalters. Diese 500 Kernkraftwerke werden im „Handbuch der Kernenergie“ als „Lappalie“ bezeichnet gegenüber den mehr als 50.000 Atombomben, die gegenwärtig auf der Erde lagern2. Auch für den Fall, diese Waffen würden niemals eingesetzt, bleibt die Dauerbedrohung durch die „friedliche Nutzung“ bestehen. Beim Versagen der Kühlung einer Wiederaufbereitungsanlage könnte die Bevölkerung noch in 100 km2 Entfernung einer Strahlenmenge ausgesetzt sein, die um das Zehn– bis Zweihundertfache über der tödlichen Dosis liegt, ein Vernichtungseffekt, größer als der beider Weltkriege zusammen. Außerdem muß der in Kernkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen und durch atomare Tests und Un fälle produzierte radioaktive Müll immer irgendwo auf der Erde bleiben und zwar für einen Zeitraum von bis zu 27.000 Jahren. Er wird ebenso wie andere tödliche Gifte irgendwie wegzuschaffen und das heißt aus dem Blick zu schaffen versucht: in Flüssen fortgeschwemmt, in Winden verweht, auf Meeresgründe versenkt, in Stollen versteckt; aus dem Blick und aus dem Bewußtsein verlagert und verdrängt3. Dennoch kann er jede Zelle erreichen, jeden Raum ausfüllen, er ist unsichtbar, kann sich überall einschleichen. Und Menschen und andere Lebewesen, die von den Gefahren nichts wissen, können diese nicht erkennen. Für sie existiert kein körpereigenes Warnsystem. Die Unsinnlichkeit der Gewalt setzt die Gefahreninstinkte außer Kraft. Alle Nachkommen müßten bis in eine unvorstellbar ferne Zukunft hinein von der Generation, die den Schaden anrichtet, der jetzigen, davor gewarnt werden, Vertrauen in die Heimat Erde zu haben, in die die Gewaltprodukte eingegraben sind. Mir geht es hier nicht um die Frage, welche Grade realer Gefährdung mit nuklearer Niedrigstrahlung verbunden sind und in welchem Maße die entstandenen Ängste auch auf Panik und Hysterie beruhen mögen; auch nicht darum, inwieweit die Angst vor der statistischen Wahrscheinlichkeit einer erhöhten Krebsrate in Mitteleuropa angesichts eines ganz anders gearteten Elends etwa von den Völkern der Dritten Welt ein Luxusgefühl saturierter Gesellschaften sei. Es geht hier nicht um die selbstmitleidige Klage um den auch noch für den kommenden Winter eingeschränkten Speisezettel und nicht um die Hamstermentalität, die sich im Frühsommer bei vielen Bundesbürgern breitmachte: Nicht um das Ereignis Tschernobyl unter dem Aspekt der Verschärfung individueller Vorsichtsmaßregeln und Überlebenskalküle. Es geht vielmehr um die - zunächst jenseits aller persönlichen Ängste gelegene - Konfrontation mit der Frage, was die ungehinderte Entwicklung und Verbreitung gewaltsamer und tödlicher Technologien für das Geschlechterverhältnis bedeutet, für die Sicht der Frau auf den Mann als gesellschaftlich gemachten, abendländischen Typus Mensch. Diese Gewalt, die die Grenzen individueller Erfahrbarkeit sowohl überschreitet als auch unterschreitet, diese Vernichtung des Wohnorts Erde als potentieller „Heimat“ ihrer Bewohner, ist männergemacht. Die Folgen der alten neuen Männererfindungen, -entscheidungen und -geschäfte sind bekannt. Die Gefährdung und Zerstörung von Zukunft, Leben und Lebensorten beruht nicht auf unschuldigen oder nur fahrlässigen, sondern auf wesentlichen Handlungen der Männergesellschaften. Nicht nur die Orte sind irritiert und unheimatlich. Auch das Vertrauen in die Menschen, die diese Gesellschaften repräsentieren, - und das sind Männer - ist beschädigt, beschädigt nochmal in einer umfassenderen Weise, als es der einzelnen Frau widerfahren kann, die ein Opfer alltäglicher Gewalt und Entwertung durch den einzelnen Mann wird und ihr Vertrauen in diesen langsam begräbt. Der Blick in die Hölle Diese universelle Gewalt wurde von Frauen nach dem Unfall in Tschernobyl als Hölle bezeichnet, die erst geschaffen und erfunden werden mußte4: Eine Hölle, die darin besteht, daß der Mann eine von ihm gemachte Gefahr in die Natur eingraviert hat, so daß sie nun tatsächlich als Feindin erscheint, zu der sie seit der Neuzeit erklärt wurde; daß Krankheit zur Norm wird, Essen ungenießbar, Luxus zum Müll, Fürsorglichkeit zur Überwachung, Schutz zur Kontrolle, Schönes behaftet mit verborgener Gefährdung. Claudia von Werlhof schreibt: „Dieses Entsetzen beim Blick in die Hölle konzentrierte sich nach und nach immer mehr auf den Schmerz beim Anblick der Kinder... Da greifen sie schon nach ihm (dem dreijährigen Kind), gierig, eisig, gleichgültig und unersättlich. Da wollen sie sein Leben schon haben... Es kommt mir vor wie mit der sogenannten Kinderpornografie. Die Opfer werden immer jünger... Das Kind hat sowieso keine Chance. Es wird einfach abgebrochen. Mitten im Lachen... Wir müssen von nun an damit rechnen, daß dieses Leben, da es angegriffen wurde, labil ist, vielleicht kränklich und früh vergänglich... Daß wir unsere Kinder überleben... Sie haben die Kinder einfach so, so nebenbei versaut... Das Kind war bloß unwichtige Sache, ein Restrisiko, ein Ding, das zufällig draufgeht... Das Menschenopfer in seiner schrecklichsten Form, nämlich die Opferung von Kindern, wird hier überhaupt erst erfunden,... Was da mit meinem Kind passsiert, kommt mir vor wie etwas „Sexuelles“, und zwar Männlich–Sexuelles, Sexuell–Gewalttägiges: Ich denke immer wieder, was sind das für Schweine, was sind das für Schweine! Ich fühle mich so, wie sich eine Mutter eines geschändeten, vergewaltigten, gefolterten, bedrohten und geschlagenen Kindes fühlen mag.“ (S. 16). Ich zitiere diese Stelle nicht deswegen, weil ich etwa meine, solche Empfindungen und existentiellen politischen Anklagen seien Müttern vorbehalten. Es geht hier nicht um den Mutterstatus, nicht um die Einmaligkeit von Mutterliebe. Vielmehr um die Vehemenz eines Liebesgefühls überhaupt, das heute, finde ich, selten Äußerung findet. Es geht um die Er schütterung über die Beschädigung des Lebens, und über diese kann nur erschüttert sein, wer Liebe zu anderen Lebewesen kennt, wer auch immer das sein mag. Vielleicht ist die Liebe zu den wirklich Unschuldigen, den Ahnungslosen, zu denen, die einfach nur beschädigt werden, der stärkste Impuls der Verzweiflung, Empörung und Klarheit. Und eine klare Sicht auf die Wirklichkeit entsteht nicht allein über die Lokalisierung und Verurteilung der Beschädiger. Je unmißverständlicher Frauen das Letztere tun, desto größer wird die Diskrepanz zur weiblichen moralischen Soll–Vorschrift, der Bejahung des Mannes. Die potentiellen Liebsobjekte verringern sich. Im Mann als gesellschaftlicher Figur ist immer weniger Liebenswertes zu entdecken. Das Kunststück, das von Frauen erwartet wird, nämlich die Männergesellschaft zu bejahen und ihren Exponenten, den Mann, zu lieben, trotz allem, wird zu einem emotionalen Akrobatikakt, der nur unter massivster Realitätsverkennung zu leisten ist; nicht ohne eine verstiegene Übertreibung von Gefühlen, nicht ohne Trugwahrnehmungen und Sinnestäuschungen, nicht ohne realitätsverzerrende Mystifizierungen. Diagnose: wahnhafte Verleugnung der Realität, imaginäre Wunscherfüllung mit subjektiver Gewißheit. Diese Männergesellschaft scheint auf dem Wege zu sein, ihre Frauen ins kollektive „moralische Irresein“ zu treiben, das heißt, die gefürchtete Verneinung des Mannes selbst hervorzubringen. Darin könnte die einzige Chance der gegenwärigen Gewaltentwicklung liegen: daß die Frau sich endlich von der patriarchalen Frauenmoral und ihrem Kern, der grundsätzlichen, der nicht mehr hinterfragbaren, der wahnhaften Männerbejahung verabschiedet. Die Scheinheimat Mann Eine solche Verabschiedung führt unweigerlich dazu, daß unsere Heimatlosigkeit in der Männergesellschaft bewußt und alltäglich erfahrbar wird. Wenn die Nichtbejahung des Mannes mehr ist als nur ein geheimer Gedanke, mehr als eine theoretische Einsicht, vielmehr zur Konfrontation mit fast allen männlichen und weiblichen Selbstverständlichkeiten führt, dann schrumpfen die Orte, wo wir uns zugehörig fühlen können, dann wird unsere Unbehaustheit offenbar. Heimat ist ein komplexes Wort für Bejahung. Sie ist immer gekoppelt mit Vergangenheiten, ein Zurückgehen zu schon mal Erlebten, ein Gern–Erinnern; Wiederholungswunsch und Wiederholungsfreude. Das Reaktivieren von Gefühlen, die an Vergangenheiten gebunden oder mit Vergangenheiten verknüpft sind, wird aber schmerzhaft oder unerträglich, wenn es ein Zurück zu diesem ehemals bejahten Orten nicht mehr gibt, weil wir diesen Weg abgeschnitten haben, oder weil sie im Licht unserer jetzigen Sicht ihren Erinnerungswert verloren haben. Wenn jedes Erinnern mit Trauer verbunden, wenn wir auf Strecken unserer individuellen wie gesellschaftlichen Geschichte nur mit Wehmut oder Abkehr blicken, dann ist eine gefühlsmäßige Ansiedlung in ihnen torpediert. Die deutsche Vergangenheit und Geschichte birgt sowieso schon so viel Ungeheuerliches, daß schon einige Dickhäutigkeit dazugehört, sich in ihr heimisch zu fühlen. Zusätzlich werden Frauen bei jedem Geschichtsausschnitt mit so viel Versäumtem, Gewaltsamem, Gebeugtem konfrontiert, mit so viel Erniedrigung des eigenen Geschlechts, daß nicht Einbettung, sondern Erbitterung und Befremdung meist die zuerst gefühlten Reaktionen sind. Unsere Geschichte hält nicht eine Auswahl von Erinnerungsräumen für uns bereit, in die wir symbolisch zurückkehren und in denen wir uns gelassen aufhalten könnten. Wenn unsere Schwestern nach Fernsehprogrammschluß aus voller Kehle die Nationalhymne anstimmen: Brüderlich für Einigkeit, Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, bleibt das Fremdheitserlebnis noch relativ äußerlich. Wir können es persönlich verschmerzen. Denn vermutlich machen wir unsere Identität nicht unbedingt davon abhängig, daß wir in der Hymne dieser Nation vorkommen. Wie auch immer, auch dieser Gleichmut verrät viel über das Problem unserer Ansiedlung. Wo ist unsere Heimat? Was bedeutet Heimat für Frauen? Können wir wissen, was das ist? Einerseits sind Frauen in der Männergesellschaft grundsätzlich Heimatlose. Die Welt, in der sie leben ist - als Ganze - nicht ihre Welt. Frauen sind zwar unentbehrliche Mitlebende. Sie berei– chern und verschönern, ergänzen und garnieren männliche Tage und Nächte, männliche Wohn– und manchmal auch Arbeitsstätten, männliche Wünsche und Phantasien. Sie haben ihre Aufgaben und Funktionen, die kein Mann ihnen abnehmen kann und will. Aber sie sind in dieser Welt nicht zu Hause. Denn es ist eine Welt für den Mann, für seine Interessen von ihm gebaut und verbaut, für seine Vorstellungen von Leben und Liebe, für seine Produkte. Frauen haben hier zunächst mal keinen Ort, der ihr Ort ist. Sie sind dabei, sie sind vorgesehen, dennoch sind sie „Menschen ohne Welt“, Dienstleistende am Mann. Sie schaffen Heimat für den Mann. Andererseits aber leben Frauen normalerweise nicht als obdachlos Herumvagabundierende und heimatlose Gesellinnen, nicht als psychische Landstreicherinnen, Vertriebene, Ausgewiesene oder Verbannte. Im Gegenteil: die Heimat, die sie anderen zu geben versuchen, ist identisch mit der Welt, die ihnen zugestanden ist. Das ist ihr Territorium. Und die Frau der bürgerlichen Gesellschaft war Zentrum dieses Territioriums. Die Frau als Heimatgeberin hat also einen Ort, wohin sie gehört und wo sie sich selbst hinordnet: den Ort beim Mann. Frauen haben ein Heimatrecht in der Männergesellschaft, allerdings eines unter Bedingungen. Sie haben und finden ihre „Heimat“ beim Mann, sofern sie ihn bejahen; sie haben und finden eine „Heimat“ in dieser Gesellschaft, sofern sie deren Männergemachtheit bejahen. Der Widerspruch dieser beiden Tatsachen, nämlich einmal gesellschaftlich heimatlos, andererseits aber historisch beim Mann verortet zu sein, legt das Paradox bloß, das den Heimatbegriff für Frauen durchzieht. Frauen brauchen einerseits das verordnete und genehmigte Rückzugsgebiet, weil ihnen im allgemeinen kein anderer Raum zur Verfügung steht, der ihrer wäre; weil sie draußen eigentlich nicht hingehören und die „Fremde“ für sie kein vertrauenswürdiger Aufenthaltsort ist; weil sie sich am besten zu Hause auskennen; weil dieses ihr Arbeitsplatz ist; weil sie gelernt haben, es als ihren Zuständigkeitsbereich anzusehen und alle anderen Gegenden als unwichtiger und ihrer Kompetenz nicht bedürftig; weil deswegen auch das „Heim“ mit den meisten Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen angefüllt ist; weil Frauen außerdem als weniger muskulöse und im allgemeinen unbewaffnete Mitglieder dieser Gesellschaft ungeschützt schwer oder gefährlich leben; weil sie diejenigen sind, die öffentlich der männlichen Geilheit zum Fraß angeboten werden; weil sie ohne Schutz schutzlos sind. Andererseits aber ist diese Bleibe, an der vielleicht einmal so etwas wie die Ursprünge des Lebens zu finden waren, auch ein Ort, der bedroht und gefährdet ist, wo Gewalt herrscht bis in die subtilsten Gegenden der Psyche und die intimsten des Körpers: geheimer Tatort oder Ghetto. Drosselung von Leben und Inspiration, asthmatische Enge, Bedrängnis und Eingeklemmtheit, Erfahrungsverhinderung und Kompetenzbeschneidung. Ein Ort, vollgestopft mit Fetischen, die die lebendigen Beziehungen ersetzen sollen. Hier siedelt sich die Frau normalerweise an, hier findet sie ihr Nest. Dieses läßt wesentliche Merkmale von „Heimat“ vermissen. Heimat und Gewalt schließen sich aus. Die Orte beim Mann sind nicht die Inseln inmitten einer gefahrvollen Brandung oder anonymen Wüste. Das Nest ist nicht aus anderem Stoff als sein großes Umfeld. Und auch die Elimination von Gewalt ergibt noch keine „Heimat“. Ohne freie Beweglichkeit, ohne die Selbstverständlichkeit des Kommens und Gehens, des Auftauchens und Verschwindens, der Überraschung und Entdeckung, des Erkennens und Erkanntwerdens, das nicht ein erschrockenes Verschließen des inneren und äußeren Auges nach sich zieht, ist der Ort der Frau nur eine Scheinheimat, und landet die Wohltat, sich auszukennen, im Überdruß am allzubekannten Schneckenhaus und in der Kurzsichtigkeit seiner Bewohnerin. So ist für Frauen das Phänomen „Heimat“ mit vielen Ambivalenzen besetzt. Manchmal suchen wir verzweifelt nach einem psychischen Ort, an dem wir uns ansiedeln könnten, nach Erinnerungen, bei denen wir bleiben möchten, nach Menschen, bei denen wir schon mal waren. Dann wieder sträuben sich die Haare gegen alles Wurzelschlagen. Dann gibt es keine Orte, keine Gefühle, auf die das Wort Heimat paßt: Keine Wurzeln, nicht verwurzelt sein. Nach kurzem Behagen folgt statt Heimweh das „Hinausweh“, und alles beginnt von neuem. Brauchen wir so etwas wie „Heimat“? Vagabundinnen Was ist mit Frauen, die beim Mann weder ihr geistiges noch ihr emotionales Territorium suchen? Frauen, die das Paradox zurückweisen, an einer Stelle etwas finden zu wollen, was es dort nicht zu finden gibt: wie der Betrunkene im Witz, der seinen Schlüssel verloren hat und diesen ebenso unermüdlich wie vergebens unter einer Laterne sucht, und auf die Frage des Freundes, ob es nicht sinnvoll sei, auch noch woanders zu suchen, sagt, nee, dort sei es ihm zu dunkel. Wohin führt der Abschied von der Scheinheimat Mann? Es gibt kein Versteck, auch kein passageres. Wir haben keine „Heimat“, zu der wir wirklich zurückwollten. Sie ist kein Ort, den wir wieder aufsuchen möchten, auch nicht einer, an dem wir in die Flucht geschlagen wurden. Wir sind keine Heimatvertriebenen. Wir entfernen uns aus eigener Entscheidung. Da aber die Nichtverortung beim Mann zumindest für den Zeitraum der bürgerlichen Gesellschaft eine kulturlose, eine traditionsarme Entscheidung ist, ist das Leben als Heimatlose ungewohnt und ungekonnt. Das Leben mit lauter Heimatlosen, nämlich Frauen, führt so noch lange nicht zur neuen Heimat. Das hat die Frauenbewegung - denke ich - eher bewiesen als widerlegt. Die Hoffnung, unter Frauen mit Netz zu leben, erfüllt sich nicht automatisch, nicht einfach und nicht schnell. Es gibt Beheimatungsversuche, in denen sich hinterrücks fast alles wiederholt, was der alten Heimat an schlechtem Geruch anhaftet. Oder sie sind von anderen unerwarteten Überraschungen begleitet. Die Entwertung der Frau ist ja nicht nur eine Tat des Mannes, sie ist auch eine oft versteckte Tat der Frau. Die abgelegten Vergangenheitsformen unserer Personen lassen sich nicht ungestraft abschneiden, und so fehlt den Heimatversuchen bei Frauen oft eins, was „Heimat“ ausmacht: die Kontinuität, die Bedingungslosigkeit des Zurückkehrenkönnens, die Dauer, die die Spuren der Zeit gütig, großzügig und gelassen aufnimmt. Als Heimatlose aus eigener Entscheidung trifft uns die Diagnose „moralischer Irrsinn“. Dabei können wir uns heute wohl nicht darauf verlassen, daß die Männergesellschaft den ehemals entlastenden Aspekt dieser Diagnose weiter zur Hand hat, um sich selbst durch den Nebel des Nichtbegreifens der Wahrheit zu entziehen. Dafür ist es zu spät. Die Verhältnisse sind klarer geworden. Vielleicht auch, daß unsere Entlastung der Klarheit nicht dienen würde. Das „Ende der Männergesellschaft“ beginnt mit dem zunehmenden Brüchigwerden und Brüchigmachen wahnhafter Bejahung des Mannes, die die Entwicklung dieser Zivilisation begleitet und ihr die Dynamik einer Todeslawine gegeben hat. Diese wahnhafte Männerbejahung in allen ihren verdeckten und offenen, geheimen und öffentlichen Formen wird zur unüberbietbar verrückten Handlung. Und so sind wir gezwungen, die Dinge umzudrehen: Frauen leiden unter kollektivem moralischen Irresein, sofern sie das knappe angebotene Heimatrecht annehmen und eine Anerkennung von Seiten derjenigen, die uns nicht helfen können und nicht helfen werden, es sei denn in ihrem Sinne. Sehen, daß wir einsam sind und jede Heimat ein Geschenk, nicht aber der Normalzustand, und die Heimatlosigkeit nicht gleichbedeutend mit einer frierenden Katastrophe: das ist vielleicht der ehrlichste Zustand, der Überschuß ungebundener Gefühle. Geistiges und psychisches Vagabundieren. Anmerkungen: 1) Ann Jones: Frauen, die töten. Frankfurt/M. 1986 2) Kursbuch 1985: GAU - die Havarie der Expertenkultur. Berlin 1986 3) Eberhard Jens: Am äußersten Rand. In: Kursbuch 85, 1986 4)Claudia von Werlhof: In: Tschernobyl hat unser Leben verändert. Vom Ausstieg der Frauen. Reinbek b. Hamburg, 1986