Abschied von den „Risikogruppen“

■ Auf dem Berliner Aids–Kongreß wurde Abschied genommen vom Begriff „Risikogruppen“ / Vom Unsinn der Zwangsmaßnahmen und über die Bedeutung von „Risikosituationen“ / Teilnehmer gegen massenhaften Aids–Test

Aus Berlin Mechthild Küpper

Unbeliebt machte sich am zweiten und letzten Tag des Kongresses „Aids geht jeden an“ der Bremer Amtsrichter Günter Schulz mit seinen juristischen Darlegungen über das, was schon jetzt an strafrechtlichen Konsequenzen und bedrohlichen Zwangsmaßnahmen möglich ist. Er bekam erst dann Applaus vom aufgeklärten Publikum aus Sozialarbeitern, Ärzten, Psychologen, Beratern und Betreuern, als er ankündigte, „zum Ende“ zu kommen. Schulzens Demonstration existierender scharfer behördlicher und juristischer Maßnahmen gegen Infizierte und Kranke nahm Senatsrat Sankowsky für die Berliner Behörden gleich zurück. Obwohl möglich, sei es nicht politischer Wille, das ganze Register des Bundesseuchengesetzes (ausgenommen die zwangsweise Meldung) gegen Infizierte anzuwenden. Die vielen Geschichten von Diskriminierungen, Berichte über Einweisungen von Kranken in die Psychiatrie, von Zahnärzten, die Positive nicht behandeln wollten - sie blieben am Rande. Zentrale Themen des von Gesundheitsministerin Süssmuth und ihrem Berliner Kollegen Fink (beide CDU) so liberal eröffeneten Kongresses blieb die Aufklärung über den Stand der Ausbreitung von Aids, über die beste Art, die Öffentlichkeit zu informieren, und der Kampf gegen alle staatlichen Zwänge. Österreich, das alle manifest Erkrankten registriert (mit Initialen und Geburtsdatum), bildete das abschreckende Beispiel. Der Berliner Politikwissenschaftler Rolf Rosenbrock, Autor eines Buches über die Gesundheitspolitik am Beispiel Aids, und Jan van Wiyngarden von der Aids–Koordination der Niederlande, wollten den Einfluß des Staates auf Förderung der Forschung und der medizinischen Versorgung begrenzt sehen. Aufklärung und Betreuung sollte der Staat mit großzügiger Finanzierung eher den dezentral arbeitenden Gruppen überlassen. Wo staatliche Stellen selbst aufklärend arbeiten, sollten sie auf Risikosituationen hinweisen, nicht „Risikogruppen“ benennen. Der in San Francisco arbeitende Sexualwissenschaftler Erwin Haeberle wies auf den Doppelsinn des Begriffs hin: „Risikogruppe“ könne meinen, daß eine Gruppe besonders gefährlich lebt, aber auch, daß sie eine Gefahr für andere darstellt. Diese Vorstellung öffne Ressentiments gegen die Opfer Tür und Tor. Rosenbrocks Buch enthält einen Aspekt, der für Konflikte sorgen wird: Er zitiert drei amerikanische und kanadische Studien, nach denen nicht einer der schwulen Untersuchten, die ausschließlich oralen Sex hatten, sich das HIV–Virus holte. Rosenbrock folgert, daß man die Warnung vor oralem Sex aus den „Verhaltensratschlägen“ der „Safer Sex“– Broschüren herausnehmen kann. „Sehr erleichtert“ reagierte darauf der Frankfurter Sexualwissenschaftler Dannecker. „Zu schnell“ sei auf virologische Befunde reagiert und ein „Safer Sex“ propagiert worden, der „contraproduktiv“, weil nicht lebbar, sei. Die Kritik der Aids–Hilfe an dem Test teilten viele Referenten der Tagung. Der Anti–Körper– Test sei sinnvoll nur für epidemiologische Forschung, Diagnose– Hilfe für bereits Erkrankte und zur Kontrolle von Blutkonserven. Ihn massenhaft zu empfehlen, so Rosenbrock, widerspreche seinem Verständnis ärztlicher Pflicht: „Der Test ist keine ärztliche Leistung“. Man solle sich nicht wundern, daß Leute, die mit einem positiven Testergebnis häufig ihr Todesurteil in Händen zu halten glaubten, sich nicht gerade zu Missionaren des „Safer Sex“ entwickelten. „Wer keine Zukunft hat“, so Dannecker, könne in der Gegenwart nicht „richtig“ und „verantwortungsbewußt“ leben. Sowohl Erwin Haeberle, der die amerikanische Situation vorstellte, als auch Senator Fink sahen in der massiven Aufklärung die einzige Chance, die rapide Ausbreitung von Aids zu verlangsamen. In Amerika sei deutlich geworden, so Haeberle, daß man sich nun vor allem an Jugendliche richten müsse, die mehr und mehr in den Statistiken als Infizierte auftauchten. Haeberle: „Aids ist kein Minderheitenproblem“. Fink: „Aids geht jeden an“. Die deutsche Aids–Hilfe: „Aids können nur Fixer und Schwule kriegen. Quatsch. Jeder!“