P O R T R A I T Onkel Böhnchen und das Glas Milch

■ Wie der marxistische Bürgermeister von Lima die Probleme seiner Stadt angeht

Von Wolf Stock

Wie ein mit allen Wassern gewaschener Revolutionär sieht Alfonso Barrantes nicht gerade aus. Der anderthalb Meter kleine, untersetzte Peruaner - ausstaffiert in dezentem Flanell, mit pomadig glänzendem Haar und dieser altmodischen Hornbrille - mag eher als gehörnter Ehemann in einer mexikanischen Liebeskomödie durchgehen. Und auch der barocke Pomp des Rathauses von Lima, durch das noch ein Hauch des spanischen Konquistadors Francisco Pizarro schwebt, mag zu Dr. Barrantes nicht so recht passen. Seit nunmehr zweieinhalb Jahren ist der 58 jährige Mestize Hausherr der „Municipalidad de Lima“. Mehr als nur eine peruanische Sensation: Weltweit ist Alfonso Barrantes heute der einzige Marxist, der in freien und direkten Wahlen zum Oberbürgermeister einer Hauptstadt gewählt wurde. Ende 1983 hatte er seinen konservativen und sozialdemokratischen Konkurrenten sicher aus dem Feld geschlagen und für sein Volksfrontbündnis der „Vereinigten Linken“(IU) den Bürgermeistersessel erobert. Lima, von den Kolonialspaniern mitten in die Wüste gebaut, ist eine typische Dritte–Welt–Stadt. Ein Stadt–Monstrum, das irgendwo anfängt und nirgendwo aufhört. Mit Bretterbuden und Strohhütten in wuchernden Randbezirken, Müllbergen an jeder Ecke, trostlosen Bettlern, Kraterlandschaften, die sich Straßen nennen, Wasserhähnen, aus denen eine braune Soße tröpfelt, Schlangen vor katholischen Suppenküchen, die immer länger werden. Eine Stadt des verzweifelten Lebenskampfes bei Tag und der Terroristenbomben bei Nacht. Vielleicht haben sich viele von Alfonso Barrantes radikale Lösungen erhofft. Doch zur Enttäuschung und Überraschung vieler hat sich der Marxist als maßvoller Humanist entpuppt. In das Zentrum des Handelns hat der Bürgermeister ganz die Kinder gestellt. Tio Frijolito, Onkel Böhnchen, wie ihn alle Welt in Anspielung auf ein Kinderlied nennt, ist der Vater des „Vaso de leche“, ein kostenloses Glas Milch. Über eine Million Gläser läßt der Oberbürgermeister so jeden Tag an seine kleinsten Bürger verteilen. Für manche Kinder bleibt dieses Glas Milch die einzige Mahlzeit am Tag. Von Holland über Australien bis zur Bundesrepublik hat sich Barrantes die Hacken abgelaufen, um Geld für sein Milchprogramm locker zu machen. Mit den ersten Ergebnissen zeigt sich der gelernte Rechtsanwalt zufrieden. Schrittchen für Schrittchen habe man die Unterernährung der Kinder zurückdrängen können. Auch daß ein solches Mammutprogramm ganz ohne bürokratischen Aufwand betrieben wird, ist neu für Peru. Ehrenamtliche Bezirkskomitees verteilen die Milchration an die kleinen Empfänger, und bisweilen mischt sich der Oberbürgermeister wie ein peruanischer Harun al Raschid unauffällig unter die Verteiler. Ob auch jeder Spendencentavo seinem Zwecke zugeführt werde? Dafür verbürge er sich. Dunkle Kanäle gebe es bei ihm nicht. Überhaupt scheint der Marxist Barrantes ein Freund pragmatischer Lösungen zu sein. Arbeitslosen drückt er einen Besen in die Hand und kommandiert sie zur Straßenreinigung ab. Von der christlich–liberalen Regierung in Bonn läßt sich der Volksfront–Mann 20 Müllwagen schenken und auf Perus Mattscheibe denunziert er Stadtverschmutzer. Das energische Vorgehen des Bürgermeisters zahlt sich aus. Seit Jahren hat man Perus Hauptstadt nicht mehr so sauber gesehen. Und auch der Personennahverkehr klappt besser, seit Barrantes die Fahrscheinpflicht einführen ließ. „Wissen Sie“, meint er im Gespräch, „das Schlimmste an der Unterentwicklung ist, daß wir als Menschen keinen Respekt voreinander besitzen, keine gegenseitige Verantwortung. Hier fährt jedes Auto auch bei Rot über die Ampel! Manchmal ist es die reine Anarchie!“ Sein Verkehrsprogramm hat der Oberbürgermeister folglich unter den martialischen Leitsatz „Kampf dem Chaos!“ gestellt. Da der promovierte Jurist nur wenig Geld und Wohltaten zu verteilen hat, wird Eigeninitiative zwangsläufig groß geschrieben. Nachbarschaftskomitees haben sich zusammengeschlossen: Gemeinsam wird gekocht, gearbeitet, werden die Kinder gehütet. Bürgermeister Barrantes kennt die Sorgen und Nöte seiner ärmsten Wähler. Die Slumbewohner Limas sind in der Mehrzahl zugewanderte Indios: verarmte Bauern, die in der Hauptstadt das große Glück suchten und nicht fanden. Heute fristen die meisten Zuwanderer ein Leben als Losverkäufer, Schuhputzer oder Kleinkriminelle. Auch der Oberbürgermeister stammt vom Land. Im Hochgebirge Cajamarcas geboren, hat er sich schon in frühen Jahren einen guten Ruf als Verteidiger in Bauernprozessen erworben. Perus Gefängnisse - die Geschichte des südamerikanischen Landes ist nicht gerade arm an blutlüsternen Despoten - hat Barrantes einige Male von innen gesehen. Der Marxist Barrantes sieht sich als Parteigänger des Schriftstellers und Politikers Jose Carlos Mariategui, der in seinen Schriften unter Einbeziehung der Indios eine Art peruanischen Sozialismus entworfen hat. Barrantes gibt sich als Marxist, der demokratische Spielregeln akzeptiert. „Nur der Pluralismus erlaubt den Austausch von Ideen. Ich habe den Konservativen wie auch den Sozialdemokraten Respekt entgegengebracht. Was nicht heißt, daß ich meine Prinzipien aufgegeben habe.“ Peru bringt dem agilen und erfolgreichen Bürgermeister Zutrauen entgegen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1985 hat Barrantes sein kommunistisches IU–Bündnis zur zweitstärksten politischen Kraft des Landes geführt. Nur der jetzige Präsident, der jugendlich wirkende Alan Garcia von der sozialdemokratischen APRA–Partei ist populärer als er. In der Ägide des Sozialdemokraten Garcia und des Marxisten Barrantes sind die einst mächtige konservative Partei (AP) sowie die Christdemokraten (PPC) zu unbedeutenden Splittergruppierungen zerfallen. Garcia und Barrantes versuchen - in Worten bisweilen radikal, in Taten jedoch pragmatisch - ihr verarmtes Land aus seiner tiefen Krise zu führen (Fahrscheinpflicht und neue Ampelregelungen sind da bestimmt gute Ansätze zu!d.S.in)