Das ökologische System ist hin

■ Der Gift–GAU am Rhein hat verheerende Langzeitfolgen / Das Trinkwasser kommt aus dem Container

Klar ist eigentlich nur, daß der Brand im Schweizer Chemiekonzern Sandoz und die dadurch verursachten zwei Giftwellen, die in den Rhein gespült wurden, für das ökologische System des Flusses katastrophale Konsequenzen haben. Wie die genau aussehen, versuchen zur Zeit etliche Labors zu ermitteln: Niemand weiß genau, in welcher Menge und für wie lange sich die Gifte ablagern, und niemand kann präzise Auskünfte über die Vergiftung des Trinkwassers in den Rheingemeinden geben. Erst einmal sind mehrere Städtchen durch eine Notleitung versorgt worden, in Unkel kommt das Wasser gar aus dem Container. taz– Reporter Oliver Tolmein besuchte den Ort, wo die Wasserleitung trocken ist.

Unkel ist ein Dorf in Deutschland - und Sandoz ein Chemiekonzern in der Schweiz. Der Unterschied ist den Unkelern wichtig: „Was wollen denn die Umweltschützer hier? Die Katstrophen passieren doch immer im Ausland, und wir müssen drunter leiden“. Im Lebensmitteladen am Markt hat man einen guten Blick auf das große CDU–Wahlplakat: „Weiter so, Deutschland“. Das Gesprächsthema ist hier, zwischen Gurken, H–Milch, Coca–Cola–Kisten und den Gummibärchen seit Freitag nachmittag, seit das Wasser in der Gemeinde abgeschaltet wurde, immer das gleiche. Kein Gespräch, das nicht mit einer Bemerkung über das fehlende Wasser beginnt. Und so gelassen man sich vor allem Fremden gegenüber gibt - „Sie kriegen jetzt ja einen ganz falschen Eindruck von unserer schönen Stadt“ -, so besorgt zeigen sich einige Unkeler darüber, daß ihre Gemeinde die einzige in Rheinnähe ist, die seit Tagen nun überhaupt kein Wasser mehr in den Leitungen hat: „Da muß doch was faul sein“. Gesprochen wird aber mehr über die alltäglichen Probleme. Am schlimmsten, da sind sich die Hausfrauen und der Ladenbesitzer einig, ist der Gestank aus den trocken gelaufenen Wasserleitungen und daß man nicht mehr richtig aufs Klo gehen kann. „Ich vermisse Omas Plumpsklo, das hatte ein Herzchen in der Tür und funktionierte immer“, lacht eine Frau, was den Ladenbesitzer zu dem Geständnis veranlaßt, er ginge abends immer in den Wald: „Zeitung mit dabei und dann weg“. Er wohnt nämlich im zweiten Stock, und da müsse man sonst zuviel Wasser nachkippen. Mit den neuen sanitären Verhältnissen arrangieren sich die 4.200 Unkeler aber noch ohne großes Murren - die Schuldigen sitzen schließlich weit weg, von Unkel aus nur telefonisch zu erreichen. In Wallung geraten ist der Zorn der Laden– und Kneipenbesitzer aber, als Montag morgen das Lebensmittelüberwachungsamt aus Koblenz anrückte, um die hygienischen Verhältnisse zu kontrollieren. „Wenn die in meinen Laden kommen, da pack ich mir den Hammer und hau die raus“, wütet Heinz L., „kommt das Gift von mir oder was?“ - „Die Großen läßt man laufen, und euch gehts an den Kragen, weil ihr den Laden nicht auswischen könnt“, pflichtet ihm eine Kundin bei. Und auch in der Kneipe hundert Meter weiter ist der Wirt empört über die Kontroll–Lust der Lebensmittelhygieniker. Daß es den Ämtern nicht gelingt, innerhalb von drei Tagen Notwasserleitungen zu legen, will er gerne akzeptieren, obwohl ihm das schwere Einbußen bringt, weil er weniger Gäste hat und kaum noch kochen kann, aber jetzt zu kontrollieren: „Das ist die reine Schikane“. Stunden später wird sein Zorn besänftigt: Die Kontrolleure wollten nur über alternative hy gienische Maßnahmen aufklären. Was dann kommt, kennen wir aus Krimis. Der erleichterte Wirt spendet Freibier, die Beamten lehnen dankend ab: „Wir sind im Dienst“ „Jetzt halten Sie mal die Kanister so, als wenn Sie Wasser zapfen würden“. Der einige hundert Liter fassende Tank am Marktplatz liegt zwar schon seit über einer Stunde schlaff auf dem Heuwagen, das knappe Dutzend Fotografen und Kameramänner ist aber ungeduldiger als die wasserbedürftige Bevölkerung: „Wir können jetzt nicht mehr warten“. Dabei strahlt die Sonne. Dem Rhein, der in Sichtweite vorbeifließt, sieht man seine giftige Last nicht an - als Zugereister könnte man Unkel also genießen. Zumindest den gut sanierten Ortskern: kleine schiefe Fachwerkhäuser, Straßen so schmal, daß Tempo 30 sich von selbst versteht und die großen Tanklöschfahrzeuge der Feuerwehr kaum durchfahren können, etliche Weinstuben und Wirtschaften in denen jetzt handgemalte Schilder in den Fenstern hängen: „Unser Kaffee wird mit Mineralwasser gekocht“. Genießen und geduldig auf den Redaktionsschluß warten können aber nicht nur die gelasseneren unter den Journalisten, auch die Unkeler Schulkinder gewinnen dem Wasser–Notstand positive Seiten ab. Seit Freitag ist nämlich kein Unterricht mehr. Stattdessen werden die Älteren zwar zwei–, dreimal auf den Markt und an den Bahnhof geschickt, um Wasser zu holen - aber das findet Sabine „eigentlich einen ganz guten Tausch“. Und Karin kann sich selbst die Botengänge sparen: „Meine Mutter hat kurz bevor alles abgestellt wurde nochmal die Badewanne und alle Töpfe voll laufen lassen“. Das reicht, weil die Familie Verwandte in Linz, fünf Kilometer rheinabwärts, hat: „Bei denen können wir Wäschewaschen und baden gehen“. Auf die Frage, was denn Schulunterricht mit Wasserversorgung zu tun hat, ernte ich hier nur einen mitleidigen Blick: An solchen Fragen erkennen die Unkeler die Fremden, die nicht wissen, wofür Wasser alles notwendig, wie kostbar das Naß ist: „Wir können doch in der Schule nicht aufs Klo - und das verstößt gegen irgendeine Bestimmung“, grinst die zwölfjährige Karin. Einen Kontrast zu der leicht fatalistisch auf die zweite Giftwelle wartenden Haltung der meisten Bewohner bildet die hektische Stimmung im Unkeler Rathaus. Hier werden auf einer großen Übersichtskarte ständig neue Brunnen eingezeichnet, mit den Berufsfeuerwehren in Trier, Mainz und Ludwigshafen wird die Lieferung von Schlauchteilen für eine Notwasserleitung verhandelt, aufgebrachte Bürger werden beruhigt und für alte Menschen, die nicht selber die Zehn– oder Zwanzig–Liter–Kanister schleppen können, wird eine Versorgung ins Haus hinein organisiert. Und noch einer will sich in Unkel nicht damit abfinden, auf die nächste Katastrophe zu warten: ddder Apotheker. „Sandoz–Präparate fliegen bei mir aus dem Angebot - und meine Kollegin in Rheinbreitenbach sieht das genauso. Jedes Präparat von denen ist ersetzbar, und irgendwie muß man auf dem völlig überfrachteten Markt sowieso mal etwas Luft schaffen“. Fünfzehn Kilometer weiter in Richtung Koblenz, im kleinen Leubsdorf haben die Bewohner unterdessen ganz andere Sorgen: Nachts hat die Freiwillige Feuerwehr eine Notleitung ins ebenfalls teilweise von der Wasserversorgung abgeschnittene Bad Hönningen gelegt. Weil der Wasserdruck aber zu hoch ist, platzt die kilometerlange Schlauchleitung alle paar Stunden, und die Leubsdorfer müssen durch die trinkwassernassen Strassen waten. Oliver Tolmein