Gesundes Volksempfinden

■ Verfassungsrichter segnen Nötigungsparagraphen ab

Sage noch einer, das Bundesverfassungsgericht säße im Elfenbeinturm und hätte den Kontakt „zum Volk“ verloren. Mit der gestrigen Entscheidung haben die acht Herren in den roten Roben, wenn auch fürs gemeine Volk schwer verständlich, diese Polemik gegen das Orakel aus Karlsruhe eindrucksvoll widerlegt. Mit einer bis an die Grenze der Selbstverleugnung gehenden Bescheidenheit haben die Richter auf den Vorrang präziser juristischer Definitionen verzichtet und stattdessen entschieden: das „gesunde Volksempfinden“ bleibt oberste Richtschnur bei der Beurteilung dessen, was Nötigung ist und was nicht. Aber auch die Bescheidenheit des Richterstandes hat seine Grenzen: das Privileg der Interpretation über Kernpunkt der Kritik: Statt einer Definition von Nötigung bedient sich der Paragraph einer Hilfskonstruktion, die einen unbestimmten Begriff durch einen anderen unbestimmten Begriff ersetzt. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt ist Nötigung, wenn sie „verwerflich“ ist. Der Terminus „verwerflich“ löste in den 50er Jahren das „gesunde Volksempfinden“ der Nazis ab. Die Chance, sich vom Geist dieser Rechtsprechung zu distanzieren, hat das Bundesverfassungsgericht gestern verpaßt. Statt den Paragraphen wegen seiner beliebigen Interpretationsfähigkeit aufzuheben - ein Umstand, Nötigungsparagraph die Allzweckwaffe für eine Gesinnungsjustiz. Ein Sieg für das „gesunde Voksempfinden“. Jürgen Gottschlich