Wiedergutmachung - Letzter Akt

■ Bericht der Bundesregierung zu den deutschen Wiedergutmachungsleistungen liegt vor / Enttäuschung bei den Betroffenen Zahlen und Daten über abgelehnte Fälle fehlen / Summarische Abweisung der Wiedergutmachungsanträge von SPD und den Grünen

Von Klaus Hartung

In den letzten Julitagen dieses Jahres tauchte in Bonn eine Frau Vera Kriegel aus Israel auf, eine schöne, energische, bittere Frau. Sie löste in der Bonner Szenerie einen leichten Schock aus, denn es stand in personam die Vertreterin einer fast mythischen Kategorie der Nazi–Opfer vor der Tür: sie war eine Überlebende der sogenannten „Mengele–Zwillinge“. Sie wurde empfangen, ja hofiert. Frau Renger, das Büro Brandt, Frau Hamm–Brücher, der CSU– Abgeordnete Kreile und der grüne Abgeordnete Ströbele widmeten ihr Zeit. Vera Kriegel ist die Sprecherin der Organisation „CANDLES“ (“Children Auschwitz Nazis Deadly Laboratory Experiment Survivors“). Sie kam mit Forderungen: „Da wir, die Zwillinge, bis heute nicht genau wissen, was Mengele uns injizierte, oder welcher Art einige seiner Experimente waren, können unsere Krankheiten nicht zufriedenstellend behandelt werden... Wir rufen die Regierung auf, sofort in ein ernsthaftes Gespräch mit uns einzutreten, welches das Ziel haben muß, einen angemessenen Betrag als Entschädigungssumme für jeden Zwilling festzusetzen.“ Keine neue Forderung. Sie brachte einen Briefwechsel mit dem Bundesfinanzministerium mit, in dem sie in dürren Worten über das Bundesentschädigungsgesetz und Kabinettsbeschlüsse belehrt wurde, wonach keine berechtigten Ansprüche mehr beständen. In Bonn wurde ihr Betroffenheit und Engagement angeboten. Eine Korrektur der Wiedergutmachung sei auf dem parlamentarischen Weg. Vorgeschichte Zur selben Zeit stand der Bericht des Bundesfinanzministers „über die haushaltsmäßigen Auswirkungen“ der sozialdemokratischen und grünen Anträge zur Wiedergutmachung vor. Auf knappen 16 Seiten postulierte das Finanzministerium, daß alle Anträge zur angemessenen Versorgung von NS–Opfern schlicht zu teuer seien. In einer nur dem Ministerium bekannten Rechnung wurde eine Haushaltsbelastung von elf Milliarden Mark pro Jahr angenommen. Gar nicht zu denken an die Entschädigung der Zwangsarbeiter: „auch die bescheidenste gesetzliche Regelung...würde nicht absehbare Kosten verursachen.“ Der Bericht kam zum Schluß, daß die Wiedergutmachung als eine „insgesamt (!) befriedigende und damit abschließende Regelung betrachtet werden müsse“. Mit seinem polemischen Zahlenwerk und seiner provozierenden Kürze löste dieser Bericht bei den Abgeordneten Empörung aus. Eine Empörung, die der CSU–Abgeordnete Kreile, Vorsitzender im Finanzausschuß geschickt wendete. Alle Entschädigungsanträge wurden zunächst einmal kassiert und dafür die Bundesregierung zu einem neuen, endlich korrekten Bericht über den Stand der Wiedergutmachungsleistungen aufgefordert. Termin: 1.11.86. Mit diesem Verfahren hatte die Bundesregierung zunächst einmal erneut einen Verzögerungsgewinn erzielt. Christian Ströbele bekannte in der Bundestagsdebatte von 26.6 seine Scham „für diese Art von Parlamentarismus“. Allen Verfolgten, „auch der Frau aus Isreal“, müsse er sagen, dieser „10. Deutsche Bundestag ist die falsch Adresse“, denn „kaltschneuzig, eiskalt wird mit dem Faktor Zeit operiert“. Antwort an Vera Kriegel Dieser Bericht der Bundesre gierung liegt nun vor, erstellt unter der Federführung von Frau Süssmuth. Er ist eine Fleißarbeit von 156 Seiten, entspricht zumindest formell dem Auftrag des Bundestages. Die Ministerialen haben wahrgenommen, daß es eine aufmerksam gewordene Öffentlichkeit gibt, haben auch den Besuch von Frau Kriegel zur Kenntnis genommen. Und zwar so: „Als sogenannte Zwillingsversuche waren bisher lediglich solche, im Konzentrationslager Auschwitz unter Verantwortung von Dr. Mengele an Zwillingen vorgenommene Untersuchungen bekannt, in denen Messungen körperlicher Merkmale und Analysen von Körperflüssigkeit vorgenommen worden waren, ohne das dies zu dauerhaften Gesundheitsschäden geführt hätte. Zwillingsversuche dieser Art stellen daher keine pseudo–medizinischen Versuche im Sinne des Kabinettsbeschlusses von 1951 dar, sofern nicht im Einzelfall den Menschenrechten und der medizinischen Ethik wi großer Teil der Probanden ins Gas ging - nicht gesundheitsschädigend war. Einzelfälle kann es geben, aber schließlich hat Mengeles wissenschaftlicher Chef, Prof. von Verscheuren alle Unterlagen 1945 verbrannt. Frau Kriegel kann nun sehen, wie sie die Experimente nachweist, wie sie erklärt, was ihr jetziger Gesundheitsschaden mit irgendwelchen gesundheitsschädigenden Experimenten zu tun hat. Der Bericht der Bundesregierung ist eine Verteidigungsschrift der bisherigen Wiedergutmachung. Daß es noch unabgegoltene Ansprüche von Opfern gibt, wird nicht als Auftrag, sondern als Problem begriffen. Zunächst beweist der Bericht, daß der ganze Komplex der Wiedergutmachungsregelungen eine Angelegenheit von Spezialisten ist und es auch zu bleiben hat. Der gesamte historische Teil - durchgehend apologetisch - stellt die Geschichte der Gesetzgebung und der Verordnungen als einzigen Triumphzug dar: „Trotz dieser Schwierigkeiten ist ein Gesetzeswerk gelungen, das nahezu alle durch das NS–Unrecht verursachten Schäden erfaßt.“ In diesem „Nahezu“ wird großzügig verschluckt, was seit Jahrzehnten die Wiedergutmachung in Verruf gebracht hat. Die triumphalistische Berichterstattung muß sich die kritischen Details ersparen. So heißt es schlicht: „Die Bundesrepublik übernahm nach ihrer Gründung die Wiedergutmachungsgesetzgebung der Alliierten Mächte.“ Die historische Wahrheit ist anders: Die westlichen Schutzmächte hatten bei der Gründung der Bundesrepublik erheblichen Druck ausgeübt, daß die alliierten Entschädigungsgesetze übernommen werden. Weiterhin waren die alliierten Regelungen weitreichender und gerechter. Beispiel die Rückerstattung von Vermögenswerten wurden in der amerikanischen Besatzungszone grundsätzlich dem Ariseur auferlegt. Abgesehen von diesem Detail verfälscht der Bericht die Geschichte der Wiedergutmachung: statt Hinhaltetaktik und später die wiederholten Versuche, Schlußstriche zu ziehen, malt er ein Bild unermüdlicher gesetzgeberischer Großzügigkeit. Gravierender noch ist es, daß der Bericht an keiner Stelle dieser 156 Seiten die Fragwürdigkeit der Prinzipien thematisiert. Der selektive Begriff vom „typischen NS–Unrecht“ wird mit Selbstverständlichkeit gebraucht. Aber wegen dieses Begriffs fielen Verfolgte unter das Allgemeine Kriegsfolgenrecht, mit seinen geringen Leistungen, und nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz. Nicht hinterfragt wird das Prinzip der Entschädigung nach sozialem Status (“sozialer Erwartung“) und nach den zu erwartenden Beförderungen. Diese soziale Staffelung machte aus einem armen Verfolgten einen noch ärmeren Entschädigten. Zugespitzt kann gesagt werden: für NS–Opfer war es durchaus von Nachteil, 1933 nicht beamtet gewesen zu sein. Schon gar nicht problematisiert der Bericht die verheerende Koppelung von Schaden und Verfolgung. Da diese Koppelung immer nachgewiesen werden mußte, war sie eine Büchse der Pandora für Bürokratismus und Prozeßsucht. Nach wie vor kann man nur ahnen, was das Gutachtenwesen, die Prozesse durch alle Instanzen gekostet haben. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß KZ–Häftlinge sich von ehemaligen Nazi–Ärzten begutachten lassen mußten und ihre Sache ehemaligen Nazirichtern anzuvertrauen hatten. Machart Die Fleißarbeit geht einher mit bürokratischer Faulheit. Die Leistungen werden zahlenmäßig und inhaltlich dargestellt. Bei Ablehnungen, bei Nicht–Leistungen überhaupt ist der Bericht vage. Zum „Stand der Rückerstattungsverfahren“ heißt es: „Es bestehen keine Erhebungen über Art und Umfang der Ansprüche und über den Erfolg (sprich: Mißerfolg) der Anträge.“ Aber genau diese Angaben sind den Anträgen in den Archiven zu entnehmen. Zu dem Komplex „Wiedergutmachung für Angehörige des öffentlichen Dienstes“ wird gesagt: „35 v.H. wurden abgelehnt und 10 v.H. fanden anderweitige Erledigung“. Warum? Angeblich lassen sich Angaben nicht erlangen. Aber wegen dieser Angaben wurde der Bericht angefordert. Auf Seite 85 wird behauptet, der Zentralrat der Sinti und Roma habe keine „ be nachteiligten Personen namhaft“ gemacht. Eine Lüge: seit einem Monat liegt eine Liste von 400 Namen vor. Eine weitere Lüge: Auf Seite 19 wird behauptet, die vom Verfassungsgericht geforderte Zulassung eines sogenannten Zweitbescheides bestehe nach wie vor. Da war die Schlußfrist 1973. Zynismus Der sachliche Oberton des Berichtes ist brüchig. Da sind Untertöne. Bräunliche z.B. Es wird von „jüdisch versippt“ gesprochen, die „Asozialen“–Listen der Nazis werden aufgeführt. Beunruhigender ist der bürokratische Zynismus: Zwangssterilisierte seien nicht erwerbsgemindert. Punkt. Zum Verfolgtenkreis der Homosexuellen wird zunächst festgestellt, daß durchgeführte Strafverfahren „weder NS–Unrecht noch rechtsstaatswidrig“ seien. Dann wird gesagt, es seien - nach einer Medienaktion - nur 9 Eingaben von homosexuellen Einsendern in Sachen Wiedergutmachung erfolgt. Der Schluß der Behörde: „der Kreis der durch KZ–Haft betroffenen Homosexuellen (sei eben) wesentlich kleiner“. Die Behörde braucht den rosa Winkel im KZ nicht zur Kenntnis zu nehmen. Mit anderen Worten: hier wird die Wiedergutmachung geradezu benutzt, um Verfolgung zu leugnen. Versteckte Polemik Ein zentraler Widerspruch des Berichtes: Es wird festgestellt (S.18), daß die „ Aufklärung der inzwischen viele Jahrzehnte zurückliegenden Vorgänge...nahezu unmöglich geworden ist.“ Da nun, wie der Bericht es immer wieder leidig zur Kenntnis nimmt, noch jetzt Opfer Ansprüche anmelden, ergibt sich - an sich logisch - die Veränderung des Wiedergutmachungsprinzips: Abkehr von dem Nachweis des Zusammenhangs von Verfolgung und Schädigung und Sicherung eines einigermaßen würdigen Lebensabends der Opfer. Darauf zielen die rentenartigen Regelungen (auf der Basis einer Stiftung) in den Anträgen der Grünen und der SPD. Aber dagegen ist ja der Bericht geschrieben. Eine versteckte Polemik: an drei Stellen (S. 96, 97, 101) wird betont, daß eine solche Regelung dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche. Wer also jetzt fordert, weil er etwas braucht, wird abgewiesen, weil andere, namenlose NS–Opfer möglicherweise nichts erhalten haben. Jetzt schon - nach dem ersten Schock der Lektüre des Berichtes - häufen sich die Proteste der Betroffenen. Die VVN verlangt erneut eine Anhörung der Opfer. Der Zentralrat der Sinti und Roma ist empört und hat für die nächste Woche eine Pressekonferenz angekündigt. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlin, Galinski, intervenierte bei Ministerin Süssmuth. Sollte dieser Bericht das letzte Wort hinter der Wiedergutmachung sein, dann wäre er der unwürdige, aber adäquate Abschluß jener „zweiten Verfolgung“. Vera Kriegel hat „drastische Aktionen“ bei ihrem Besuch in Bonn angekündigt, falls nichts geschehe. Sie selbst denkt an einen Hungerstreik vor dem Bundeshaus. Ob das die Hartherzigkeit der Schlußstrichzieher erschüttern kann?