Norwegens Pressefreiheit endet bei der NATO

■ Sechs Redakteure der Zeitschrift Ikkevold stehen vor Gericht, weil sie Landkarten mit NATO–Standorten in Norwegen veröffentlichten

Von Reinhard Wolff

Kassel (taz) - Seit Montag dieser Woche stehen sechs Redakteure der Zeitschrift Ikkevold (“Gewaltlosigkeit“) wieder vor dem Landgericht Oslo, das über eine Anklage wegen Geheimnisverrats zu befinden haben wird. Im Mai letzten Jahres waren sie hier wegen Spionage verurteilt worden. Das Urteil wurde jedoch vom Obersten Gericht wegen haarsträubender Fehler wieder aufgehoben. Die norwegischen Sicherheitsbehörden gaben aber nicht auf: wenn schon keine Spionage, dann doch zumindest Verrat militärischer Geheimnisse. Begonnen hatte der Versuch einer Kriminalisierung der norwegischen Friedensbewegung und ihrer wirkungsvollsten Organisation, der „Volksbewegung gegen den Krieg“ vor über drei Jahren. Im Oktober 1983 nahm die Polizei unter Führung des Osloer Polizeichefs Arne Huuse eine breitangelegte nächtliche Razzia vor, die den Räumen der „Volksbewegung“, ihrer Zeitschrift Ikkevold und zwölf Wohnungen von Redaktionsmitgliedern galt. Kistenweise Material wurde beschlagnahmt, darunter das halbe Redaktionsarchiv, private Briefe, die Abonnentenkartei und die Mitgliederliste der „Volksbewegung“. Es war das erste Mal in der neueren norwegischen Pressegeschichte, daß die Polizei eine Redaktion durchsuchte und redaktionelles Material beschlagnahmte. Zuletzt hatten dies die Nazis während der Besatzung Norwegens in den Jahren 1940–1945 getan. Von „Polizeistaatsmethoden“ war denn auch in der Presse fortan die Rede, der norwegische Presseverband protestierte gegen den schwerwiegenden Eingriff in die Pressefreiheit und das Recht auf Schutz von journalistischen Informationsquellen. In einem einstimmig angenommenen Beschluß wurde auch vom Parlament das Vorgehen der Sicherheitsbehörden kritisiert und die Registrierung von Mitgliedern einer nicht verbotenen Organisation scharf verurteilt. Mitglieder– und Abonnentenkartei wurden von der Polizei wieder freigegeben, große Teile des Redaktionsarchivs von Ikkevold sind aber noch heute beschlagnahmt. Grund für die beispiellose Staatsaktion gegen Ikkevold war eine Artikelserie der Zeitung in den Jahren 1982 und 1983 unter dem Titel „Norwegen und die atomare Strategie“. In dieser Serie wurde die Verstrickung des „atomwaffenfreien“ Norwegen in die Atomstrategie der NATO zum Thema gemacht: Die Vorratslager der US–Armee in Mittelnorwegen, die acht für Atombomber hergerichteten Flugplätze, die teils in unmittelbarer Nähe zur sowjetischen Grenze liegen, die fünfzehn NADGE–Luftüberwachungsstationen und die zwei Peilstationen Loran und Omega C, die zur Navigation der von U–Booten abgeschossenen Atomraketen benötigt werden. Norwegen, wo tatsächlich keine Atomraketen lagern, zeigte sich auf der Ikke vold–Landkarte mit über 70 hochwichtigen NATO–Basen als ein Land vollgestopft mit all der Logistik, die für die Führung eines Atomwaffenkriegs unumgängliche Voraussetzung ist. Dies behagte dem Verteidigungsministerium gar nicht, obwohl die beeindruckende Sammlung der Ikkevold nur eine Zusammenstellung von Material aus allgemein zugänglichen öffentlichen Quellen war. Über 100 Punkte soll die erste - geheime - Anklageschrift der Staatsanwaltschaft umfaßt haben, nur ein einziger wurde schließlich angeklagt: der „Verrat“ der SOSUS–Station auf Andoya. Die Existenz der SOSUS–Kette ist kein Geheimnis, sie ist unzähligen NATO–Publikationen zu entnehmen. Dieses „Sonor Surveillance System“ besteht aus Unterwasserkabeln, die über den gesamten Nordatlantik verlegt sind und jede U–Boot–Bewegung registrieren sollen. Mindestens 22 Landstationen - hier enden die Unterwasserkabel und die aufgefangenen Geräusche werden analysiert - sind bekannt. Auf der Vesteralen–Insel Andoya befindet sich eine dieser Basen - es ist nicht die einzige in Norwegen. An der Nordspitze von Andoya liegen verschiedene militärische Einrichtungen, teilweise unübersehbar direkt neben der Straße. Der Tourist, der hier die Mitternachtssonne photografieren will, bekommt sie fast zwangsläufig mit aufs Bild. Eine der Stationen nennt sich „Seeverteidigungsstation“, dies ist - beziehungsweise war bis vor drei Jahren - die SOSUS–Basis. Die Karte, auf der in Ikkevold die Basis verzeichnet war und einige - eher unscharfe - Photos, hatten vor drei Jahren genügt, sieben redaktionell Verantwortliche wegen Spionage zu verurteilen. Dies, obwohl schon im März 1982 das norwegische Fernsehen und eine große Boulevardzeitung über eine andere SOSUS–Station beim nordnorwegischen Gamvik berichtet hatten - ungestraft natürlich. Dies auch, obwohl einem Großteil der Bevölkerung auf Andoya der Charakter der „Seeverteidigungsstation“ bekannt ist - was mit Zeugenaussagen bewiesen wurde - und die Stelle, an welcher die Unterwasserkabel an Land münden nach Aussage eines Unterwassertechnikers binnen spätestens 24 Stunden von jedem genau lokalisiert werden kann, der sich dafür interessiert. Um Spionage ging es also nicht, auch wenn das Urteil damit begründet worden war: Es gibt Dokumente, wonach die SOSUS– Kette der Sowjetunion seit spätestens 1978 in allen Einzelheiten bekannt war. Die Begründung, mit der der Oberste Gerichtshof im Mai 1986 das Urteil des Landgerichts aufhob, wurde nicht nur in Juristenkreisen als schallende Ohrfeige für die erste Instanz gewertet. Die Anklage gab sich damit aber nicht zufrieden. Nachdem der Spionage–Vorwurf beim besten Willen nicht mehr zu konstruieren war, beschränkte sich die neue Anklageschrift auf Geheimnisverrat. Zu der neuen Anklage, über die nun drei Wochen lang verhandelt werden soll, ist es angeblich nur auf Veranlassung der Sicherheitsbehörden hin gekommen. Die Juristen der Staatsanwaltschaft hätten nach diesen Informationen von sich aus das Verfahren nicht neu eröffnet. Für die Ikkevold–Leute ist es deshalb ein politisches Verfahren, das juristische Geplänkel nur Vehikel. Doch auch auf dem juristischen Feld gingen die ersten Punkte bereits an die Angeklagten. Als Sachverständiger wird der von ihnen vorgeschlagene Friedensforscher Carl Jacobsen vom schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI gehört werden - gegen die heftigen Einwände der Staatsanwaltschaft. Um die Veröffentlichung von 1983 wird es also nur noch formal gehen. „Starke präventive Gründe sprechen für eine strafrechtliche Reaktion auf derartige Veröffentlichungen“, begründete Staatsanwalt Thorbjorn Gjolstad die neue Anklage. Tatsächlich geht es um Pressefreiheit, um das Damoklesschwert einer Geheimnisverratsanklage, das über jedem Journalisten hängen soll, wenn er es wagt, Informationen zu liefern und Zusammenhänge herzustellen, die nicht genehm sind.