Brasilien: Der Wahlsieger steht schon fest

■ Heute finden in Brasilien die ersten freien Kongreßwahlen statt / Ein Wahlsieg der größten Partei der Regierungskoalition wird allgemein erwartet / Eine Überraschung ist das Bündnis zwischen der „Arbeiterpartei“ und den Grünen in Rio de Janeiro

Aus Rio de Janeiro H.G. Wagner

Die brasilianischen Massenmedien zweifeln längst nicht mehr am Ausgang der Wahlen am heutigen Samstag, den ersten freien Gouverneurs– und Parlamentswahlen in Brasiliens „Neuer Republik“. Die PMDB (Partei der demokratischen Bewegung) wird bereits im Vorfeld von allen konservativen Blättern als Wahlsieger gefeiert. Die größte Partei der Regierungskoalition Alianca Democratica (Demokratische Allianz) hat alle Chancen, in 18 bis 20 der 23 Bundesstaaten die Gouverneure für die kommenden vier Jahre zu stellen. Im Senat und Abgeordnetenhaus kann die PMDB stärkste Partei werden. Zusammen mit dem kleineren Koalitionspartner, der PFL (Partei der liberalen Front) hätte die Alianca Democratica dann, vorausgesetzt, die Regierungskoalition bricht nach den Wahlen nicht zusammen, in beiden Kammern die absolute Mehrheit. Der Wahlausgang entscheidet auch über die Zusammensetzung einer verfassungsgebenden Versammlung. Kernstück der neuen Verfassung wird die Direktwahl des Präsidenten sein. Auch die letzte Wahlumfrage des Nachrichtenmagazins Veja sieht die PMDB in den zehn größten Bundesstaaten mit zusammen über 80 Prozent der Bevölkerung an der Spitze der landesweit bis drei Dutzend zugelassenen Parteien. Die PFL, die ähnlich wie die PMDB in den meisten Bundesstaaten Koalitionen mit kleinen, relativ unbedeutenden Parteien aus dem rechtsliberalen Spektrum gebildet hat, wird voraussichtlich zweitstärkste Partei werden. Im Bundesstaat Rio de Janeiro, dem wichtigen Industriezentrum Brasiliens, mit über sieben von insgesamt 69 Millionen Wählern, ist der Ausgang der Gouverneurswahlen noch völlig offen. Die PMDB hat hier eine „Demokratische Allianz“ mit der PFL und sechs kleinen Parteien geschlossen. Darunter die „eurokommunistische“ PCB und die „albanistische“ PCDOB. Ihr Kandidat, Moreira Franco, liegt bei den Wahlumfragen mit ca. 30 Prozent nur knapp vor Darcy Ribeiro, Kandi dat der in Rio de Janeiro sehr starken PDT (Demokratische Arbeiterpartei). Ohne die Unterstützung von Leonel Brizola, der seit 1982 Gouverneur von Rio de Janeiro ist, hätte Darcy Ribeiro kaum Aussichten auf einen Wahlerfolg. Die PDT, die mehr den Charakter einer linkspopulistischen Bewegung hat, ist auf die Person Brizola zugeschnitten. Brizola verfügt über ein Charisma wie kaum ein anderer Politiker in Brasilien. Die Wählerbasis seiner Partei, die von der Sozialistischen Internationalen unterstützt wird, sind die Bewohner der Favelas und der großen Arbeitervorstädte Rios. Dort versteht Brizola immer wieder, seine Wähler mit populären Wahlkampfgeschenken bei der Stange zu halten. Abgesehen von Rio de Janeiro hat die PDT nur noch in Rio Grande do Sul, dem Heimatstaat Brizolas, eine nennenswerte Basis. Die Überraschung in dem eher tristen Wahlkampf in Rio de Janeiro ist die PT/PV, die Koalition zwischen der „Arbeiter–Partei“ und der neugegründeten „Grünen Partei“, die mit ihrem Gouverneursbewerber, dem Schriftsteller und Ex–Guerillero Fernando Gabeira, gute Chancen hat, zehn bis 15 Prozent der Stimmen zu bekommen. Sie hat nicht nur gegen zwei mächtige Parteiblöcke zu kämpfen, sondern vor allem gegen eine marktbeherrschende Rechtspresse und gegen die privaten Fernsehanstalten. Kurzfristig wurde vorgestern die letzte Fernsehdebatte zwischen den Kandidaten der PMDB, PCT und der PT/PV von dem Medienriesen „TV Globo“ abgesetzt. Die PT/PV ist davon überzeugt, daß „Globo“ damit den Aufwärtstrend von Gabeira bremsen will. Erst letzte Woche mußte die rechtskonservative Jornal do Brasil gerichtlich gezwungen werden, ihre Behauptung zurückzunehmen, Gabeira wolle als Gouverneur das Marihuana freigeben. In der fast unüberschaubaren Parteienlandschaft verdient es die PT als einzige, im eigentlichen Sinn als Partei bezeichnet zu werden. Mit einem klaren, sozialisti schen Programm hatte sie bisher ihre Basis im Industriezentrum Sao Paulo. Geprägt von dem Gewerkschaftsführer Ignacio da Silva (Lula) führte sie dort in den letzten Jahren der Militärdiktatur die sozialen Kämpfe an. Die Koalition mit den Grünen in Rio de Janeiro bringt einen Wählerzuwachs aus der alternativen Szene. Frauengruppen, Schwule, Schauspieler, Artisten, Sänger und Umweltschutzorganisationen unterstützen die Walkampagne. Die Bereiche Umweltschutz, Stadtsanierung und die Verbesserung der öffentlichen Transporte sind die Schwerpunktthemen der PT/PV. Die Forderungen nach einer Stillegung von ANGRA I, dem ersten AKW in Brasilien, und die Kündigung des Atomvertrages mit der BRD finden bereits eine breite Zustimmung in der Bevölkerung. „Das Wahlergebnis wird nicht den geringsten Einfluß auf mein Kabinett haben“, erklärte Sarney diese Woche in einem Interview gegenüber Veja und wies damit Spekulationen über eine mögliche Kabinettsumbildung zurück. Es ist aber unwahrscheinlich, daß ihm seine Partei dabei folgen wird. Ulysses Guimaraes, der Vorsitzende der PMDB, hat schon den Anspruch auf einen größeren Einfluß seiner Partei in der Regierung angemeldet. Längst überfällige Reformen, die endlich die miserablen Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit verändern könnten, sind von dieser Regierung jedenfalls nicht zu erwarten. Die Agrarreform beispielsweise, ein wichtiger Teil des Regierungsprogramms, wird bisher nur sehr zögernd angegangen. Die Incra, ein der Regierung unterstelltes Agrarreforminstitut, nimmt sich viel Zeit, die großen brachliegenden Flächen, die als reines Spekulationsland benutzt werden, zu registrieren. Die Verflechtungen zwischen Grundbesitzern und Politikern sind zu stark, um eine tatsächliche, tiefgreifende Agrarreform zu verwirklichen. Auch in der Wirtschaftsreform, dem „Plano Cruzado“, werden die ersten Risse sichtbar. „Ca. 60 Prozent der preisgebundenen Waren, darunter zum großen Teil Lebensmittel, sind heute für die Bevölkerung unerreichbar. „Sie sind entweder vom Ladentisch verschwunden oder aber nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen“, sagt Rui Falcao, Mitglied des Parteivorstandes der PT in Sao Paulo. Die Palette der vom Markt „verschwundenen“ Produkte reicht von Milch bis zum Roheisen. Nach den Wahlen wird vor allem für Grundnahrungsmittel eine Preisexplosion erwartet. Die Regierung kann dann einer Konfrontation mit den Gewerkschaften, die sie jetzt noch mit Blick auf die Wahlen verhindern will, nicht mehr aus dem Weg gehen.