Bundesregierung spielt auf Zeit

■ Regelung zur Entschädigung für alle NS–Opfer in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr möglich

Wenn Ende Dezember die letzte Sitzung des Bundestages vorbei ist, hat die Bundesregierung es geschafft: die vor eineinhalb Jahren eingeleiteten Versuche, so schnell wie möglich eine Entschädigung für alle - also auch bislang nicht berücksichtigte Opfer des Nationalsozialismus durchzusetzen - sind dann für diese Legislaturperiode gescheitert. SPD und Grüne ließen sich durch immer neue bürokratische Hürden hinhalten, während die Regierungsparteien nach zeitweiligem Einlenken zuletzt wieder auf ihren Ablenkungskurs zurückkamen. Eine Bundestagsdebatte am Donnerstagabend änderte daran nichts. Die Hearings, Presseerklärungen, Stellungnahmen, biographischen Berichte zum Unrecht der Wiedergutmachung von ehemaligen Opfern des Nationalsozialismus sind inzwischen kaum noch zählbar. Es ist eine ausgegrenzte Öffentlichkeit. Alle diese Dokumente haben einen Tenor: grausam erweckte Hoffnung, hartherzige Abweisungsbürokratie, demütigende Prozeßsituationen und - vor allem - Wiederbegegnung mit den ehemaligen Verfolgern im bundesdeutschen Amtsgewand. Diese, von den NS–Opfern „zweite Verfolgung“ genannte Politik hat der 10. Bundestag fortgesetzt. Er hat nicht nur die Ansprüche der nicht–entschädigten Betroffenen durch ein zynisches Spiel auf Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode verzögert und damit abgewiesen. Er hat durch ein Übermaß kleiner und größerer Skandale die NS–Opfer richtiggehend in die Resignation getrieben. Am Ende dieser Woche zwei Szenen aus dem letzten Akt der Abweisung. Donnerstag abend wurden die Anträge der Grünen und der SPD zur „Wiedergutmachung der Wiedergutmachung“ und zugleich der Süssmuth–Bericht verhandelt, der die provozierende These aufstellt, „nahezu alles“ NS–Unrecht sei entschädigt. Dieser Bericht nun - eine umfangreiche Collage amtlicher Schriftstücke - erwies sich vorweg als bürokratischer Westwall gegen die Ansprüche der NS–Opfer. Kehrtwende im Rechtsausschuß Am Mittwoch wurde im Rechtsausschuß die Frage der Zwangssterilisierten bzw. der Nichtigkeitserklärung der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgesetze verhandelt. Hier bahnte sich im Sommer ein Kompromiß aller Parteien an. Selbst Justizminister Engelhard erklärte für die Bundesregierung, es gehe jetzt darum, den Opfern „ein klares Wort zu dem ihnen angetanenen Unrecht zu sagen“: Es müsse „unmißverständlich festgestellt werden, daß die Zwangssterilisierung Unrecht war und den Opfern und ihren Familien Achtung und Mitgefühl gebühren“. Noch in der letzten Woche legte der CDU–Abgeordnete Seesing seiner Fraktion eine Beschlußvorlage vor, die aus drei Punkten bestand: 1. Feststellung, daß das Erbgesundheitsgesetz von 1933 „Unrecht“ ist, 2. Bezeugung von Mitgefühl, 3. Unterrichtung der Opfer über „zur Verfügung stehende Hilfen“. Das war wenig, aber immerhin das Mindeste, der Minimalkompromiß. Dazwischen kam der Süssmuth–Bericht, der faktisch vom Bundesfinanzministerium erstellt worden ist. Die Wirkung: Kehrtwendung. So legte derselbe CDU– Abgeordnete Seesing am Mittwoch im Rechtsausschuß eine neue dreipunktige Beschlußvorlage vor: Nun hieß der 1. Punkt „Erstellung eines rechtshistorischen Gutachtens, ob, und wenn ja, inwieweit das Gesetz Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Ausdruck und Ausfluß von nationalsozialistischem Gedankengut war“. 2.: Statt Mitgefühl internationaler Rechtsvergleich und 3. Berichtsauftrag ausgerechnet an das Bundesfinanzministerium „über mögliche Auswirkung auf die Entschädigung anderer Gruppen“, bei „besonderer Berücksichtigung“ des Gleichheitsgrundsatzes. Kaum verklausuliert heißt das also: 1. das Erbgesundheitsgesetz war kein NS– Unrecht; 2. andere Länder sind auch nicht besser. Der dritte Punkt (abgesehen von seiner schwachsinnigen Formulierung - es müßte heißen: Auswirkung der Entschädigung von Zwangssterilisierten auf die Entschädigung anderer Opfergruppen) ist von unglaublicher Scheinheiligkeit. Zwangssterilisation kein NS–Unrecht Denn gerade das Bundesfinanzministerium hatte jenen Bericht erstellt, der alle denkbaren Ansprüche und alle Anträge für nicht– entschädigte Opfergruppen mit dem ständig wiederkehrenden Hinweis, der Gleichheitsgrundsatz dürfe nicht verletzt werden, ablehnt. Zu deutsch heißt dieser Punkt: Wir bleiben hart. Die CDU hat praktisch aus einer Entschädigungsfrage eine Bestätigung der Nazi–Gesetzgebung gemacht. Die Mehrheit im Rechtausschuß stimmte zu. Die FDP glänzte durch Abwesenheit. Obwohl oder weil FDP–Politiker von Engelhard bis Hamm–Brücher sich Monate vorher rhetorisch brillant für die Belange der Zwangssterilisierten eingesetzt hatten. Der grüne Abgeordnete Norbert Mann fiel aus allen Wolken und protestierte gegen diese Art des „Aufrechnens“ im internationalen Rechtsvergleich. Auf jeden Fall war diese Sitzung die Vorentscheidung für die Debatte am Donnerstag abend. Stiftungsmodelle vorgestellt Neu in der Debatte war der lange angekündigte Gesetzesentwurf der SPD zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS– Unrecht“. Das Stiftungsmodell ist inzwischen Konsens zwischen den Grünen und der Sozialdemokratie. Politischer Unterschied: Die SPD betrachtet die Wiedergutmachungsregelung für abgeschlossen und sieht die Stiftung als Kompensation für die Fälle, wo „trotz Vorliegens eines Entschädigungssachverhaltes die einschlägigen Entschädigungsregelungen nicht anwendbar sind“. Die Grünen gehen mehr von der Fragwürdigkeit der Wiedergutmachung aus. Das Stiftungsmodell der SPD geht von einem Haushaltsansatz von 250 Mio. DM für 1987 und von je 150 Mio. DM in den Jahren 1988–1990 aus. Wichtigstes Organ der Stiftung soll der Stiftungsrat sein, wo sechs Betroffenenvertreter und drei von den „Geschädigten vorgeschlagene Wissenschaftler“ drei Vertretern der Bundesregierung, vier des Bundesrates und vier des Bundestages gegenüber stehen, so daß auch bei einer weiteren CDU–Regierungsperiode die Betroffenen mit SPD/Grünen–Stimmen die Majorität hätten. Dieser Stiftungsrat soll die Leistungsvergabe ausarbeiten. Weitere Elemente der Debatte: das peinliche Sich–Herausreden der Ministerin Süssmuth für die schlimmen Formulierungen über die „Mengele–Zwillinge“ in dem von ihrem Haus vorgelegten Bericht über die Wiedergutmachung. FDP, SPD und die Grünen protestierten sowohl gegen die politische Tendenz als auch gegen Geist und Sprache des Berichtes. Hirsch (FDP): „Sehr kompliziert und technokratisch“, Renate Schmidt: „Zu behaupten, alle hätten etwas bekommen, ist schlicht und einfach eine Lüge“, Ströbele (Grüne): „Der Bericht ist eine offene Provokation für viele Verfogte“. Weiter verzögert Trotz der bitteren Analysen über den Berichtsinhalt, trotz der in die Debatte gebrachten Anträge zur Entschädigung von SPD und Grünen stand am Donnerstag abend ein anderes Thema im Raum: die verspielte Zeit. Die Parlamentarier erkannten und bekannten, daß sie die Zeit verspielt hatten, begriffen, daß das Sich–Einlassen auf diesen Bericht bedeutete, an dem Spiel auf Zeit mitzumachen. Die SPD–Abgeordnete Renate Schmidt dazu: „Ich wünschte mir, wir hätten diesen Bericht nie angefordert.“ Und Christian Ströbele: „Das Befürchtete ist eingetreten: Der Bericht hat wertvolle Zeit gekostet. Vier Monate haben Bundesregierung und Koalition gewonnen, in denen sie sich um eine Versorgungsregelung rumdrücken konnten. Und was viel schlimmer ist, in dieser Legislaturperiode geschieht nichts mehr, und das heißt bis 1988.“ Spekulation auf das Alter der Verfolgten Die Bundesregierung und Frau Süssmuth „spekulieren mit dem hohen Alter der Verfolgten“. Die Selbstkritik des Bundestags blieb wirkungslos. Statt wenigstens den ganzen Komplex nur an einen Ausschuß zu verweisen, wurden die einzelnen Sachverhalte auf die Ausschüsse verteilt. Allzu durchsichtig soll das Spiel auf Zeit nicht sein. Klaus Hartung