Der Exitus im scheenen Arzgebirch

■ Wenn man vor lauter toten Bäumen den Wald nicht mehr sieht, dann stirbt innerlich etwas ab / Jahrelang haben die Behörden in der CSSR die Katastophe im Erzgebirge verschwiegen / Saurer Regen hat das einstige Ferienparadies zerstört / Aufforstung scheint vergeblich

Von Bartholomäus Grill

Im Schrittempo quält sich ein schwerer Lastwagen den Berg herauf, kommt mählich näher und kriecht behäbig wie ein fetter Lindwurm an uns vorbei. Mächtige Stämme trägt er auf seinem Buckel: ein Holztransport. „Die fahren den ganzen Tag“, sagt Frau Hasek in fließendem Deutsch, während sich die Abgaswolke verflüchtigt, „und holen die kaputten Bäume“. Ihr Häuschen steht direkt an diesem geteerten „Holzweg“. Ihr Blick schweift in die Senke hinunter. Dort, ein paar Steinwürfe entfernt, begann vor zehn Jahren noch der Wald. Heute mag sie gar nicht mehr aus dem Küchenfenster schauen, denn der ausgefranste Waldessaum liegt etwa einen Kilometer von ihrem Anwesen entfernt. „Manchmal meine ich, der Zug fährt zur Haustür herein.“ Einst fing der dichte Forst den Lärm der Eisenbahn, die Schneegestöber und den kalten Bergwind ab. Im vergangenen Winter drohte das Erzgebirgsdörfchen Kovarska in meterhohen Verwehungen zu ersticken: Da ist kein natürlicher Schutz mehr gegen die Unbilden des Wetters. Ringsum tote Wälder, Baumskelette, soweit das Auge reicht - ein gespenstisches Szenario an diesem launigen Spätsommertag. „Schauen Sie, wie die Gegend hier aussieht.“ Die Stimme der rüstigen Mittfünfzigerin klingt bitter. Sie wuchs hier auf und liebt das „scheene Arzgebirch“. Seit einem Jahrzehnt muß sie den schleichenden Exitus der Natur miterleben. Die Gegend ist nicht wiederzuerkennen, wirkt so entstellt, daß Frau Hasek auf ihre alten Tage am liebsten wegziehen möchte. Wenn man vor lauter toten Bäumen den Wald nicht mehr sieht, dann stirbt auch innerlich etwas ab: die Natur im Kopf, das Heimatgefühl. Ihre Enkelin, die im Dorf Verkäuferin lernt, hat angekündigt, sofort nach der Ausbildung abzuhauen. „Dann bin ich ganz allein.“ Die Witwe zuckt resigniert mit den Schultern und deutet auf ein paar heruntergekommene Häuser im Anger schräg gegenüber: „Die stehen leer. Da will keiner mehr leben.“ Mit dem Waldsterben kam die Landflucht Ein untersetzter, verschmitzt dreinschauender Nachbar, der die ganze Zeit schweigend dabeistand, nickt zustimmend und ergänzt in böhmisch–österreichischen Tonfall: „No, des missen jetzt auch die Zeitungsschreiber zugeben.“ Jahrelang haben die offiziellen Stellen der CSSR das Waldsterben totgeschwiegen; nun kommen sie nicht mehr daran vorbei, die Folgen der Umweltkatastrophe einzugestehen, denn die biologische Brache zog die soziale Brache nach sich. Je großflächiger die Wälder abstarben, desto stärker setzte in Nord– und Westböhmen die Landflucht ein. Vor allem die nachwachsenden Erzgebirgler treibt es in die Städte des Südens. Sie verlassen die Region, in der die Säuglingssterblichkeit um über zwölf Prozent höher, die durchschnittliche Lebenserwartung um drei bis vier Jahre niedriger liegt als in der übrigen Tschechoslowakei. Auch Wachstumsstörungen, Atemwegserkrankungen und Hautleiden treten zwischen Aussig und Eger häufiger auf als anderswo im Lande. Die Leute in Kovarska spüren den Ernst der Lage am eigenen Leibe. „Um diese Jahreszeit kriegen wir schon die Grippe, eine hartnäckige, die man nicht so leicht loskriegt. Und viele Kinder haben Angina und Bronchitis. Ich selber hab Probleme mit der Schilddrüse“, klagt Frau Hasek und legt die anfängliche Zurückhaltung, die man hier gegenüber Fremden übt, ab. „Der Förster, der auf der anderen Seite des Tales wohnt, der würde Euch mehr erzählen. Aber er kann nicht mehr reden. Er hat Kehlkopfkrebs.“ Betrübt fügt sie zum Abschied hinzu: „Wir Menschen verdorren hier genauso wie die Bäume.“ Ab 900 Meter steht im Erzgebirge kein Baum mehr Die Trauer von der Seele reden - ein Bedürfnis, das erwacht, wenn nichts mehr zu ändern ist. Wir winken und schweigen und rollen ins Dorf hinunter. Kehren ein im „Central“, dem ersten und einzigen Hotel am Platze. Ein Haus, das schon bessere Tage gesehen hat, seinerzeit, als die Sommerfrischler noch in Scharen ins Erzgebirge pilgerten - zur Luftkur. Holzverkleidete Wände, jägergrüne Vorhänge, eine ausgebleichte Wanderkarte, ein stilisierter Holzstoß, dazu amerikanische Konserven–Musik. Wir sind die einzigen auswärtigen Gäste. Der Kellner huscht so wieselflink durch die Wirtsstube, bedient uns so zuvorkommend, als ob er es den Reisenden, die sich immer seltener nach Kovarska verirren, besonders angenehm machen wollte. Schließlich ist Peter Jarolim der Juniorchef. Vor einem Jahr mußte er einspringen - „als meine Mutter gestorben war, im Alter von 41“. An einer schweren, unheilbaren Krankheit hat sie gelitten. „An Krebs - im Kehlkopf.“ Vor nicht allzu langer Zeit, in den 70er Jahren noch, war Kovarska ein beliebtes Ausflugsziel. Lebendig, lustig solls hier oben zugegangen sein. Manchem Gebäude, das die Ära, in der Böhmen noch Österreich war, überdauerte, merkt man die fetten Jahre noch an. Damit wird es bald ein Ende haben, denn längst nagt an den verschnörkelten Fassaden der ehemaligen Bürgerhäuser der Zahn der Zeit, der da heißt: saurer Regen. Wird Kovarska demnächst ein ähnliches Schicksal widerfahren wie den Goldgräberstädten, die nach dem großen Rausch verwaisten und zerfielen? Wird dem Sterben der Natur das Sterben der Kultur folgen? Es scheint, als läge dieses Nest bereits in Agonie. Allein in Böhmen sind mehr als 400,000 Hektar Wald zerstört Wir verlassen Kovarska in Richtung Medenec. Tote, faulende Bäume säumen unseren Weg. In allen Himmelsrichtungen, an allen Horizonten sieche oder abgestorbene Wälder. Die nach dem Krieg vertriebenen Erzgebirgler würden womöglich freiwillig auf die Rückkehr in ihre Heimat verzichten, sähen sie sie im jetzigen Zustand: Wo in ihrer Jugend die Tannen rauschten, regiert unterdessen die öde Steppe. Nach amtlichen, recht schönfärberischen Schätzungen sind allein in Böhmen rund 400.000 Hektar zerstört. Im Erzgebirge steht ab 900 Meter über dem Meeresspiegel kein einziger Baum mehr. Drücken Sie ruhig aufs Gas, werter Autofahrer! Hier dürfen Sie Rallye–Fahren, denn zerstören können die Gifte aus Ihrem Auspuff nichts mehr. Jährlich sinken 3,1 Millionen Tonnen Schwefeldioxid–Emissionen auf das Land nieder (die CSSR liegt weltweit an zweiter Stelle), hinzu kommmen 400.000 Tonnen Staub, Ruß und hochgiftige Abgase wie Kohlenwasserstoffe und Chlorverbindungen. Allein auf Nordböhmen rieseln per anno 1,5 Millionen Tonnen SO2 nieder. Kilometer um Kilometer durchqueren wir die Schlachtfelder des Krieges gegen die Natur. Sie wollen nicht enden. Schleichend biegen wir um die nächste Kurve und starren fassungslos auf den nächsten Baumfriedhof. Schwere, dunkle Wolken jagen über die kahlen Hügelkämme. Es wird langsam finster. Die Reflektoren am Straßenrand sind so verklebt und verstaubt, daß das Bankett kaum noch auszumachen ist. Luftangriff: Energie für den Sozialismus Anderntags wölbt sich ein wolkenloser Himmel über das Erzgebirge. Lind scheint die Septembersonne auf die hinsiechende Landschaft. Der Blick reicht weit nach Süden, ins Egertal. Da unten, im „Kohlenpott“ der CSSR, in der häßlichsten Region des Landes, stehen die Dreckschleudern aneinander gereiht wie giftige Perlen auf einer Kette: Kohlekraftwerke, Chemiefabriken, Eisenhütten. Eine Armada von rauchenden Schloten - Energie für den Sozialismus. 40 Prozent des tschechoslowakischen Stroms wird in Nordböhmen produziert, durch Verbrennung extrem schwefelhaltiger Braunkohle. „Filteranlage“ ist in Karlsbad oder Komotau ein Fremdwort. Die Erzgebirgler fragen sich schon lange nicht mehr, woher das Waldsterben, woher ihr miserabler Gesundheitszustand rührt. Wir gleiten hinunter in die Ebene, wo die Erde im Tagbau weitflächig aufgerissen wird, wo riesige Bagger die reichhaltigen Flöze plündern. Stippvisite in Ka dan, empfohlen als eines der hübschesten Städtchen dieses Landstrichs. Im Stadtkern steht eine prächtige Barocksäule, an der die Umweltgifte fressen. Die um sie herum gruppierten Schutzpatrone richten ihre Blicke flehentlich zum Himmel. Doch gegen diese Art von Luftangriff hilft auch Demut nicht. Aus Kanada wurden neue, teure Bäume eingeflogen Auf der Strecke nach Teplice, vormals Teplitz–Schönau, passieren wir ein geradezu furchteinflößendes Kraftwerk. Über dem Werkstor prangt in goldenen Lettern auf rotem Grund ein Propagandaspruch für die Werktätigen: „Program XVII. Sjezdu KSC - Program vseho lidu. - Das Programm des 17. Parteitages - ein Programm für das gesamte Volk.“ Bravo, weiter so! Steht nicht in der Rude Pravo, der größten parteihörigen Zeitung der CSSR geschrieben, daß man mit den paar kranken Bäumen schon fertig werde, daß es kein Problem sei, die versteppten Areale zu rekultivieren und mit genetisch zäheren Baumarten wiederaufzuforsten? Noch einmal „klettern“ wir im Auto hinauf in höhere Regionen, über Kalek, Brandov zum Bärenstein, anschließend entlang der Grenze zur DDR über Kliny zum Wieselstein. Unterwegs entdecken wir inmitten quadratkilomterweise abgestorbener Flächen einige jener vielgepriesenen, neuangelegten Schonungen, von denen sich linientreue Forstbeamte Wunder erhoffen. Wir steigen aus und begehen die junge Anpflanzung. Birken, Blaufichten, Ebereschen haben sie hier gesetzt. Und besonders widerstandsfähige Nadelhölzer, die angeblich für 600 Kronen das Stück (nach offiziellem Kurs circa 125 Mark) extra aus Kanada eingeführt wurden. Sie machen nicht den gesündesten Eindruck, diese legendären Boschen: verkrüppelter Wuchs, gilbe Nadeln, Nottriebe. Manche sind schon vom Tod gezeichnet. Da bewirken auch noch so aufwendige Düngung und Kalkung nichts; die Böden sind zu sauer, die Krume ist zu stark erodiert, und unvermindert werden Schadstoffe aus der Luft eingetragen. Tote Welt im Herzen Europas Gleich neben der Jungbäumchen–Kolonie erstreckt sich ein „Todesstreifen“. Achtung, nun betreten Sie den Wald 2000. Wir kommen nur im Schneckentempo voran zwischen glucksenden Tümpeln mit fauligem Wasser, modernden, kreuz– und quer–liegenden Stämmen, Gestrüpp von dürren Ästen, wucherndem, strohartigem Gras, wirrem Wurzelwerk. Dazwischen halten sich noch einige entlaubte oder entnadelte Bäume in der Senkrechten. Einsam und grau stehen sie da, wie nach einem Bombardement. Ein unheimliches Gefühl beschleicht uns, je weiter wir in diese Waldgruft eindringen. Es ist, als sei man auf einem fernen, lebensfeindlichen Planeten und nicht im Herzen Europas. Kein abstreichender Eichelhäher, kein äsendes Reh, kein erschreckt weghoppelnder Hase. Kein vertrauter Laut, alles reglos. Nur der Wind fegt kalt durch die Baumskelette. Rückfahrt in den Westen. Ein letzter Abstecher auf den Keilberg, der mit 1.244 Metern höchsten Kuppe des Erzgebirges. Die Vogelperspektive vom Aussichtsturm erschließt noch einmal ein schauerliches Panorama. In den geschlossenen Beständen des näheren Umkreises ist jeder zweite Baum angeschlagen. Die entferntere Landschaft erinnert an das Fell eines räudigen Hundes: kahle Zonen wechseln mit angegriffenen. Ganz hinten, im Talgrund, erkennt man durch die glasige Herbstluft jene fettigen Zecken, die sie, wenn nicht aussaugen, so doch ersticken: die Kohlekraftwerke. Hauptgesprächsthema der überwiegend aus der benachbarten DDR ausgeflogenen Touristen auf diesem Schau–Ins–Land: das Waldsterben. Die Emissionen aus ihren sächsischen Industriegebieten tragen zur böhmischen Misere bei, „natürlich“ auch die unverbesserlichen Schmutzfinken in der Bundesrepublik. Man schenkt sich nichts im Ost– West–Giftkartell. Die Militärs, die am Keilberggipfel manövern, müssen sich daher wohl bald eine neue Tarnfarbe anmischen - grün ist zu auffällig. Die Skifahrer hinwiederum dürfen frohlocken. Neun Lifte steigen schon den Berg herauf und für jeden weiteren bedarfs nicht mal eines Kahlschlags.