Der Rhein - ein deutscher Fluß

■ Von der Kloake der 70er Jahre zum Auffangbecken der Chemie–Industrie / von Manfred Kriener

Der Rhein - was ist das für ein Fluß, der vergessen vor sich hindümpelte, bis ihn die Nervengifte von Sandoz in die Schlagzeilen puschten? Ist das überhaupt noch ein Fluß, ein natürliches Öko–System oder eher eine künstlich am Leben gehaltene Wasserleiche, die die romantisch verklärten Schwärmereien deutscher Dichter über den lieblichen Fluß verhöhnt? Es soll sich im Sommer 1976 zugetragen haben. Polizei und Feuerwehr bargen einen Mann aus dem Niederrhein, der sich wütend und verzweifelt gegen seine Retter wehrte. Der Mann wollte nämlich „nur baden“, wie er immer wieder händeringend versicherte. Vergebens. Wer Mitte der 70er Jahre in den Rhein sprang, galt automatisch als Selbstmörder und mußte sich Hilfe gefallen lassen. In den 70er Jahren hatte sich der Rhein in Europas größte Kloake verwandelt. Sein ökologischer Ruin wurde deutsches Bildungsgut und fand Eingang in Meyers Konversationslexikon, das ihn zum „heute schmutzigsten Fluß dieser Größenordnung auf der Erde“ kürte. In den amtlichen Einschätzungen wurde eine „Verödung der Biozönose“ registriert, und in den offiziellen Gewässerkarten schwankte die Klassifizierung der wichtigsten Binnenschiffahrtstraße Europas zwischen „überaus stark belastet“ und „sehr stark belastet“. Immer höher stieg die Fracht an schmutzigen, stinkenden und giftigen Abwässern, die in den sterbenskranken Fluß geleitet wurden. Die Alarmglocken schrillten allenthalben, bis schließlich die in Gang gesetzte Sanierung erste Erfolge zeigte und Ende der 70er Jahre einen deutlichen Qualitätssprung in der Wassergüte erreichte. Dazu war allerdings ein milliardenschweres Bauprogramm von Kläranlagen und Kanalisationen notwendig. Städte und Gemeinden steckten zwischen 1977 und 1983 insgesamt 17 Milliarden Mark in den Bau von Abwasseranlagen und schraubten den Anteil der in den Rhein eingeleiteten biologisch–mechanisch geklärten Abwässer auf 87,3 Prozent (Stand 1972: 44,1 Prozent). Der Kläranlagenbau wurde durch Fördermittel angeregt, paßte gut ins Konzept der bau– und betonwütigen Bürgermeister und Landräte und brachte dem Rhein gleichzeitig eine spürbare Erleichterung. Merkliche Geruchsverbesserung Die organische Fracht des Stroms ging deutlich - seit 1977 um etwa 40 Prozent - zurück, wodurch sich der Sauerstoffgehalt, aber auch der Geruch des Wassers merklich verbesserte. Und auch in Sachen Schwermetallen registrierten die Rhein–Wasserwerke in ihren Jahresberichten jeweils erfreuliche Zahlen. Die Belastung sank. Doch inzwischen ist der große Sanierungsschub vorüber. Die Güte des Rheinwassers konnte im Mittel um mindestens eine Rangstufe verbessert, der Kollaps vermieden werden. Das Gröbste ist erledigt, Zufriedenheit macht sich breit. Der Rhein dürfte „nicht mehr als Kloake diffamiert“ werden, heißt es selbstgefällig im Gewässerzustandsbericht 1985 von NRW. Doch zur Lehnstuhl–Mentalität besteht nicht nur wegen des Sandoz–Unfalls, der den Rhein um Jahre zurückwirft, kein Anlaß. Das beweist ein Blick in den letzten Jahresbericht der Arbeitsgemeinschaft der Rhein–Wasserwerke (IAWR). Der niederländische Präsident der IAWR, Cornelis van der Veen, sieht den Rhein in vielen Problembereichen „noch meilenweit“ von seinen Sanierungszielen entfernt. Gleichzeitig, so van der Veen, deuten „weitaus die meisten Meßergebnisse darauf hin, daß die Rheinsanierung in den 80er Jahren ins Stocken geraten ist. Nur in wenigen Fällen ist ein anhaltender Verbesserungstrend zu beobachten.“ Aber noch immer transportiert der Rhein irrwitzig hohe Salzfrachten, die in den 80er Jahren sogar weiter angestiegen sind, noch immer ist die Stickstoff– und auch die Phosphatbelastung viel zu hoch, noch immer dürfen Rhein–Fische, vor allem Aale, an weiten Stromabschnitten nicht verkauft werden, weil ihr Gehalt an Giften oberhalb der festgesetzten Höchstgrenzen liegt. Chemische Keulen Neben diesen ungelösten Altlasten tritt ein weiteres Problem für den Rhein immer mehr in den Vordergrund: die Gefährdung durch „organische Mikroverunreinigungen“. Hinter dem Namen der „organischen Mikroverunreinigungen“ stecken all jene Supergifte der Chemie–Industrie, die schon in geringsten Konzentrationen zum Teil mutagene oder kanzerogene Wirkungen zeigen. Ihre komplizierten Namen garantieren ihnen Anonymität, sperren sich jeder sinnlichen Vorstellung und Erinnerung und halten sie folglich auf die Insider–Group beschränkt. Ob 2–Methyl–6–ethylanilin oder Dichlorbenzotrifluorid, Otto Normal kann nur die Achseln zucken. Im Jahresbericht 1984 der „Arbeitsgemeinschaft der Länder zur Reinhaltung des Rheins“ (ARGE) heißt es dazu: „Im Abwasser aus Betrieben der chemischen Industrie (...) fallen sie in immer größerem Maße z.B. als chlorierte Kohlenwasserstoffe an. Sie bedrohen unmittelbar oder nach Anreicherung in Nahrungsketten die Gesundheit von Mensch, Tier und Pflanze. Die schwer abbaubaren organischen Substanzen durchfließen die üblichen biologischen Reinigungsanlagen fast unverändert. In den Gewässern unterliegen sie ebenfalls nur einem geringen Abbau. Sie können (...) in die Trinkwasserwerke gelangen. Dort lassen sich bestimmte schädliche Komponenten mit den bekannten Aufbereitungsmethoden in wirtschaftlicher Weise kaum entfernen. (...) Allein bei der Stoffgruppe der meist naturfrem den Organohalogen–Verbindung muß mit mehreren tausend Einzelverbindungen gerechnet werden. Insbesondere die Langzeitwirkung dieser Stoffe und ihre möglichen Kombinationseffekte sind bisher kaum bekannt, einige dieser Stoffe sind krebserregend. (...) Soweit der ARGE–Bericht 84! Mit den Rekordumsätzen der großen Chemie–Konzerne, die sich im Rheineinzugsgebiet wie nirgendwo sonst auf der Welt drängeln (Sandoz, Ciba–Geigy, Hoffmann La–Roche, Dynamit– Nobel, BASF, Bayer, Degussa, Hoechst, Merck), ist auch die Menge ihrer gefährlichen Abfallstoffe gewaltig gestiegen. Mal sind es 6O.OOO, mal 140.000 verschiedene Stoffe, die von den Chemieproduzenten angeblich an den Rhein „abgegeben“ werden, auf jeden Fall sind sie in ihrer Masse unbekannt, unbestimmbar und nur durch sog. summarische Parameter, also durch „Familienzugehörigkeiten“ zu erfassen. Diese Stoffe werden zudem nicht gleichmäßig, sondern in einzelnen Schüben eingeleitet. Der IAWR–Bericht vermerkt dazu: „Bezeichnend sind die stark schwankenden Konzentrationen, die auf willkürliche Einleitungen hindeuten.“ Weitere Störfälle sind absehbar Auch die Sandoz–Katastrophe wurde durch Angehörige dieser „unbeherrschbaren Problemstoffe“ ausgelöst, obwohl diesmal nicht die Abfälle, sondern die Endprodukte in den Rhein flossen: hochgiftige Insektizide. Über das Schicksal des Rheins wird diese Stoffklasse in den nächsten Jahren entscheiden. Entweder es gelingt durch Eingriffe in Produktion und Konsumverhalten, die Entstehung dieser Supergifte zu reduzieren, oder die schleichende Vergiftung wird zur galoppierenden. „Für den Rhein“, so schreibt die rheinland–pfälzische Landesregierung in ihrem Wassergütebericht 1984, „ist die Funktion der Kläranlage der BASF von entscheidender Bedeutung.“ In der Tat steht heute der wichtigste Fluß Europas mit seinen 20 Millionen Trinkwasser–Abnehmern in direkter Abhängigkeit von jedem einzelnen Chemie–Konzern. Ein falsch gezogener Schieber, ein Störfall, eine „bedauerliche Havarie“ (Ciba–Geigy) können, wie der Sandoz–Unfall jetzt gezeigt hat, zehn Jahre Rheinsanierung zunichte machen.