Was ist Mord, was Totschlag?

■ Prozeß vor dem Kasseler Landgericht gegen einen Eritreer, der seine Ehefrau „in der Behütetheit des Kindbettes“ erstochen hat / Unklare Rechtslage / „Konservatives“ Gericht fällte überraschendes Urteil

Aus Kassel Heide Platen

Zu fünfzehn Jahren Gefängnis wegen Mordes und vollendeter sexueller Nötigung verurteilte die 4. Strafkammer des Kasseler Landgerichts in der vorletzten Woche den 45jährigen Eritreer Hangambes Tesfamicael. Tesfamicael hat, so der Vorsitzende Richter von Gliszynski, am Abend des 11. August 1985 seine Ehefrau Sashu, „die Mutter seines gerade geborenen Kindes in der Behütetheit des Kindbettes erstochen“. Das Urteil löste bei den Frauen des Kasseler Frauenhauses, in das Sashu vor dem Mord geflüchtet war, Überraschung aus. Sie hatten dem eher konservativen Gericht nicht zugetraut, daß es zu diesem Schuldspruch kommen würde. Im Kasseler Stadtteil Oberzwehren lebt eine kleine eritreische Kolonie in der Brückenhof–Siedlung, einem Neubaugebiet. Dort wohnte auch das Ehepaar Tesfamicael. Für beide ist dies die zweite Ehe, in die sie mehrere Kinder aus ihren ersteren eingebracht hatten. Gemeinsam haben sie einen kleinen Sohn. Sashu ist wieder schwanger. Unüberbrückbare Ehekonflikte Die Ehe geht nicht gut. Hangambes Tesfamicael schlägt seine Frau. Er beschuldigt sie der Prostitution. Sie läuft davon, kehrt wieder zurück und flüchtet im Sommer 1985 endgültig in das Kasseler Frauenhaus. Der „Eritreeische Rat“ tagt mehrmals und befaßt sich mit den Eheleuten. Er hat die Aufgabe, so ein Zeuge vor Gericht, bei Schwierigkeiten zwischen Eheleuten schlichtend einzugreifen. Damit übernimmt er in der Emigration die Rolle, die in der Heimat der Verwandtschaft oder dem Bürgermeister des Ortes zukommt. Beide Kontrahenten benennen mehrere Vertreterinnen und Vertreter, die ihre jeweiligen Interessen wahrnehmen. Dem Rat gelingt es nicht, Sashu zur Rückkehr zu ihrem Mann zu überreden: „Wir haben Druck auf sie ausgeübt.“ Sie weigert sich, obwohl der Rat ihrem Mann aufgetragen hat, sich für die unbeweisbaren Vorwürfe zu entschuldigen. Das tut er nach anfänglicher Weigerung sehr widerstrebend. Auch Sashu soll sich entschuldigen, meint der Rat, um die Form zu wahren. Seine nächste Sitzung legt er auf den 24. August fest, an dem Sashu schon 13 Tage tot sein wird. Mit den Mißhandlungen, unter denen die Frau zu leiden hatte, befaßt sich der Rat nicht. Er prüft lediglich, ob belegbar ist, daß Sashu im Sudan Kontakte zu Männern hatte. Dort hatte sie nach ihrer Flucht aus Eritrea gelebt, bis Tesfamicael sie in die Bundesrepublik holte. Unter der Trennung von seiner Familie habe er sehr gelitten, sagt ein befreundetes Pfarrerehepaar aus, das er oft besuchte. Er sei, erinnert sich die Pfarrersfrau, manchmal schon etwas merkwürdig gewesen, querulantisch und jähzornig. „Über Kleinigkeiten“ habe er sich „stundenlang aufregen“ können. Am Tattag liegt Sashu im Städtischen Krankenhaus in Kassel. Sie ist vor drei Tagen von einer Tochter entbunden worden. Ihr Mann hat sie mehrmals besucht und aufgefordert, wieder nach Hause zu kommen. Sie lehnt das ab. Auch Ratsmitglieder besuchen Sashu. Wie ihr Mann erfahren hat, daß sie im Krankenhaus ist, bleibt im Prozeß unklar. Am Abend des 11. August gegen 19.05 Uhr kehrt Hangambes Tesfamicael ins Krankenhaus zurück, nachdem er zuhause ein Küchenmesser geholt hat. Er fährt mit dem Taxi vor, stürmt ins Krankenzimmer seiner Frau, beschimpft und schlägt sie. Dann tötet er sie mit elf Messerstichen. Nach der Tat läßt er sich festnehmen. Kritische Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit in diesem Prozeß wird vor allem durch zwei sehr unterschiedliche Gruppen präsentiert: die Frauen und Männer aus der eritreischen Kolonie und die Frauen aus dem Kasseler Frauenhaus. Beide Gruppen wollen eine harte Verurteilung des Angeklagten und zweifeln daran während der Verhandlung. Am Morgen der Urteilsverkündigung werden die Frauen des Frauenhauses mit Knüffen und Püffen aus dem Saal getragen, nachdem sie während des Plädoyers des Verteidigers, Rechtsanwalt Waechtler, protestiert hatten. Der Saal war bereits einmal geräumt worden, als die Firma die Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters und die unwürdige Befragung einer Zeugin kritisiert hatten. Die Frau war von Tesfamicael in ihrer Wohnung angefallen worden und hatte erst nach dem Mord Anzeige erstattet. Mörder oder Totschläger? Während der Verhandlung ergreifen vor allem zwei ältere eritreische Frauen immer wieder das Wort. Sie wollen nicht, daß die Ermordete entwürdigt wird und halten Tesfamicael für einen „sehr grausamen Mann“. Daß er eine von ihnen eine Hexe nannte und wohl auch daran glaubt, reizt die Frauen immer wieder zu zornigen Zwischenrufen. Richter von Gliszynski ermahnt sie geduldig und fragt um Hilfe: „Ist denn keiner der Herren bereit, mal mit der Dame zu reden?“ Umso ungeduldiger war er mit den Kasseler Feministinnen umgesprungen, die sagen, er ließe „nur noch weibliche Frauen“ in den Gerichtssaal. Dreh– und Angelpunkt des Prozesses ist die Frage, ob Tesfamicael ein Mörder oder ein Totschläger ist. In diesem Falle: hatte Sashu voraussehen können, daß ihr Mann sie töten wollte oder war sie „arglos“ überrascht worden? Denn: Mörder ist nach dem Gesetz nur, wer vorsätzlich, aus niederen Beweggründen ein Opfer tötet, das „wehr– und arglos“ ist, wer also „heimtückisch“ handelt. Um diese Frage streiten die Juristen - auch der Bundesgerichtshof - seit einiger Zeit. Die Juristin Ilka Junger schrieb dazu 1984 in der Zeitschrift „Streit“ (Nr. 2): „...wenn die Frau sich den Wünschen des Mannes widersetzt (= Böswilligkeit), muß sie mit Bösem rechnen! Was im umgekehrten Fall natürlich nicht denkbar wäre.“ Unmut bei den Frauen löst immer wieder die Tatsache aus, daß Männer bei dieser geschlechterspezifischen Rechtssprechung glimpflicher davonkommen. Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt Auch Richter von Gliszynski machte sich während der Verhandlung über die unklare Rechtslage Gedanken und löste Empörung aus, als er erwog, die Anklage vom Mordvorwurf in den des Totschlags umzuwandeln, nachdem mehrere Frauen aus dem Frauenhaus ausgesagt hatten. Sie hatten immer wieder betont, wie sehr Sashu sich vor ihrem Mann gefürchtet hatte, wie wenig arglos sie also gewesen sein konnte. Gliszynski urteilte, Sashu habe die Gefährlichkeit ihres Mannes erkannt und ihn deshalb verlassen. Sie habe sich im Krankenhaus sicher gefühlt. Außerdem habe der nächste Termin des eritreischen Rates bevorgestanden, der eigentlich auch für den Angeklagten „eine starke Bindung“ hätte bedeuten müssen. Wehrlos sei sie im Krankenbett ohnehin gewesen. Dies habe der Angeklagte „heimtückisch“ ausgenutzt. Richter von Gliszynski nannte die Tat „das Scheußlichste, was man sich vorstellen kann“. Daß Tesfamicael das Messer nur geholt habe, um seine Frau zu bedrohen, glaubte das Gericht nicht. Mildernd berücksichtigte es, daß er „an sich ein guter Familienvater“ gewesen sei, bisher straffrei lebte und sich gestellt hat. Er habe aus „Rache, Wut, Beleidigung, gekränkter Eitelkeit oden einem Bündel von allem“ gehandelt. Gliszynski entsprach in seinem Urteil (13 Jahre und neun Monate für den Mord und drei Jahre für die Nötigung), dem der Staatsanwaltschaft, die 16 Jahre Haft gefordert hatte, die Verteidigung eine Strafe „deutlich darunter“. Eine beeindruckende Würdigung des überraschenden Urteils erfuhr das Gericht, das den Saal schon verlassen hatte, durch die Eritreer. Minutenlang standen sie schweigend im Saal, still und beharrlich. Dann verlassen sie leise den Saal - vorbei an den verständnislosen Justizbeamten. Die alte Eritreerin nickt ein paar mal, lächelt und sagt: „Das ist gut. Das ist gut so.“