Rundumschlag bei Haushaltsdebatte

■ In der Debatte um den Kanzleretat ging es gestern um die Grundlagen der Bonner Politik / Ertl in Abschiedsrede: Existenz der EG hätte Weltkriege verhindert / China sei marktwirtschaftlicher als Grüne

Von Ulli Kulke

Berlin (taz) - Guten Rat hielt der SPD–Fraktionschef im Bundestag, Vogel, für Kanzler Kohl parat: „100 Prozent der Deutschen“ hätte er hinter sich, wenn er nur „beide Supermächte zur Beendigung des Rüstungswettlaufs aufforderte“. Trotz dieser Aussichten mache Kohl „alles, um eine umfassende Rüstungsvereinbarung zu verhindern“. Am gestrigen zweiten Tag der letzten Haushaltsberatungen der Legislaturperiode kam es entlang des Kanzleramts–Etats zur Grundsatz–Aussprache über die Politik Kohls. CSU–Landesgruppenchef Waigel bestätigte indirekt Vogels Vorwurf, die Bundesregierung richte sich gegen die Nullösung bei den Mittelstreckenraketen: Abrüstungsmaßnahmen, die ein sowjetisches Monopol an Kurzstreckenraketen und ein konventionelles Übergewicht brächten, liefen nicht. Der ehemalige Agrarminister Ertl, der nicht mehr kandidiert, brachte völlig im Stil einer würdigen Abschiedsrede einen ganz neuen Aspekt in diese Debatte: „Hätte es die EG vor 80 Jahren schon gegeben, wären Europa wahrscheinlich zwei Weltkriege erspart geblieben.“ Und da es die letzten Haushalts– Beratungen vor der Wahl sind, durfte der Zuhörer auch noch einmal einige Pikanterien der vergangenen vier Jahre Revue passieren lassen. Von der Amnestie für illegale Parteispenden bis zum Zapfenstreich für Kießling, alles wurde von Vogel in seiner einstündigen Rede noch einmal aufge tischt - natürlich auch das denkwürdige Newsweek–Interview Kohls. Aber auch hier hielt Waigel, der Koalitionskämpfer des Tages, Passendes parat: Wo denn der Stil von SPD–Politikern bei Interviews bleibe, wollte er wissen. In Sachen AKW Cattenom habe Lafontaine französische Regierungsstellen als „Mafia“ bezeichnet, und der Bremer Innensenator Scherf habe gar Ronald Reagan den „baldigen Krebstod“ gewünscht. Die Fraktionssprecherin der Grünen, Hönes, hielt der Bundesregierung vor, mit ihren geplanten „Anti–Terror–Gesetzen“ aus den Bundesbürgern „ein Volk von Terroristen“ zu machen und gleichzeitig der Chemieindustrie Schützenhilfe zu leisten, die der Bevölkerung das Katastrophenrisiko aufzwingen wolle. Bundeswirtschaftsminister Bangemann (FDP) meinte schließlich, entscheidende Grünen–Funktionsträger an alte Idole erinnern zu müssen: Die deutsche rot– grüne Opposition sei die einzige Parteigruppierung auf der Welt, die noch Zweifel an der Marktwirtschaft hege, während „selbst China“ inzwischen marktwirtschaftliche Rezepte anwende.