Zwangsrekrutierung für den Katastrophenfall

■ Baden–Württemberg will ab Januar 87 ein neues Katastrophenschutzgesetz einführen / Ärzte wehren sich gegen Zwangsrekrutierung im Krisenfall / Statt dessen wird Katastrophenforschung und -prophylaxe gefordert

Aus Stuttgart Dietrich Willier

Es ist Spätherbst, Montag morgen und kurz nach sechs Uhr. Nebel und ein leichter Smoggestank liegen über der nördlichen Zufahrtstraße nach Stuttgart. Herbert U., Tankzugfahrer aus Darmstadt, steht wie jeden Montag im Stau der Schichtarbeiter. An der letzten großen Kreuzung vor der Innenstadt scheint sich der Stau etwas aufzulösen. Da leuchten vor Herbert U. Bremslichter auf, mehrere PKWs sind ineinander verkeilt. Herbert U. fährt zu schnell, beim Versuch einer Vollbremsung kommt sein Tankzug ins Schleudern, vor ihm sind die ersten PKWs durch auslaufendes Benzin in Brand geraten, Herbert U. rast gegen eine Bordsteinkante, sein Tankzug kippt und bohrt sich in brennende PKWs. Der Tank seines LKWs ist aufgeschlitzt, auch die Fahrerkabine beginnt zu brennen, Herbert U. ist eingeklemmt. Weitere PKWs sind von hinten aufgefahren, der Verkehr auf der vierspurigen Straße ist blockiert. Um den Unfall breitet sich der beißende Geruch von „Epichlorhydrin“ aus. Autofahrer, die unverletzt aus ihren Wracks gestiegen sind, beginnen zu husten, einige ringen bereits nach Luft. Ein Katastrophenfall? Die Szene ist fiktiv, so oder so ähnlich aber könnte sich ein Unfall täglich abspielen. In Anbetracht zahlreicher Verletzter, gar Toter, und der Annahme, daß wegen des auslaufenden Epichlorhydrin nicht nur Hunderte von Autofahrern, sondern auch Bewohner aus den umliegenden Wohnhäusern evakuiert werden müssen, wird Katastrophenalarm ausgelöst. Kurze Zeit später treffen die alarmierten Organisationen ein: Feuerwehr, DRK, Malteser Hilfsdienst, Technisches Hilfswerk. Mit Hubschraubern werden die Verletzten in Stuttgarter Krankenhäuser, aber auch nach Heilbronn, Tübingen und Ulm gebracht. Das Landeskatastrophengesetz Baden–Württembergs ist seit sie ben Jahren in Kraft, eine „Katastrophe“, die von den Hilfseinrichtungen nicht hätte beherrscht werden können, hat es seither nicht gegeben. Dennoch soll nach dem Willen der Stuttgarter Mehrheitsfraktion CDU zu Beginn nächsten Jahres ein neues Katastrophenschutzgesetz eingeführt werden. Die nobelpreisgekrönte Vereinigung der „Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs“ protestieren dagegen. Im wesentlichen, so begründeten Vertreter der Vereinigung ihren Widerstand bei einer Anhörung vor der baden–württembergischen SPD, entspreche die Gesetzesänderung dem, was als Bundeszivilschutzgesetz für den Kriegsfall geplant, aber bisher verhindert worden sei. An präventive Maßnahmen sei überhaupt nicht gedacht worden, dafür aber sollen mit dem neuen Gesetz Ärzte, das gesamte Gesundheitshilfspersonal, Apotheker und Arzneimittelhändler über ihre genaue Tätigkeit und ihren Wohnort datenmäßig erfaßt und schon jetzt zu Katastrophenübungen dienst verpflichtet werden. Im Katastrophenfall unterstünden dann alle Gesundheitseinrichtungen der Weisungsbefugnis von Polizei und Katastrophenbehörden, die letztlich entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. So wie die bisherigen Katastrophenschutzübungen angelegt gewesen seien, belegen die Ärzte, könne es sich nur um Übungen im atomaren Kriegsfall, wenigstens aber um die Annahme eines Super– GAU handeln, dafür aber seien die Hilfsorganisationen nicht ausgerüstet; ärztliche Hilfsmaßnahmen seien vergeblich und dienten nur der Beruhigung und Täuschung der Bevölkerung. Ein solches Gesetz würde jedem totalitären Regime zur Ehre gereichen. Daß Industriebetrieben auch in dem neuen Gesetz die Entscheidung überlassen bleibt, welcher Betriebsunfall eine Katastrophe sei und welcher nicht, empfinden die Vertreter der „Internationalen der Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs“ nach den letzten Chemiekatastrophen wie Hohn. Und die Handlungsunfähigkeit baden–württembergischer Stellen nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, kommentierte ein Befürworter der neuen Verordnung, sei ja „keine Katastrophe im Sinne des Gesetzes“ gewesen. Organisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz, der freiwilligen Feuerwehr, Malteser Hilfsdienst und Städte– und Gemeindevertretern ging es bei der Anhörung mehr um Modalitäten des finanziellen Ausgleichs für ihr Hilfsangebot und den Erhalt der eigenen Zuständigkeiten. Eigene Verbesserungsvorschläge zum bestehenden Katastrophenschutzgesetz machten die Ärzte für die „Notfallmedizin“, zur personellen Ausstattung und Kapazitätsausweitung in Krankenhäusern und zur Ausbildung von Rettungssanitätern. Auch müsse endlich wissenschaftliche Katastrophenforschung, Katastrophenprophylaxe und die Erforschung tatsächlicher medizinischer Möglichkeiten betrieben werden. Zusagen, ob sie sich die grundsätzliche Kritik der Ärzte zu eigen machen wollen, mochten die SPD–Parlamentarier nicht geben.