Ohne Lust und Liebe der „Biologie“ auf der Spur

■ Sexualaufklärung: Besser als früher und trotzdem wie „anno dunnemal“ / Das biologische Grundwissen oder: Hat Sexualität nur mit Drüsen, Organen und Hormonen zu tun? / Frühe sexuelle Kontakte zwischen Jugendlichen noch immer ein Tabuthema / Zahl der Teenager–Schwangerschaften steigt

Von Gitti Hentschel

„Als Schüler kenne ich die Sexualerziehung. Ein widerlicher Mist... Was wollen diese Typen? Wollen sie uns aufgeilen?... Jeder Affe runter bis zum Einzeller weiß, wie man sich vermehren kann. Gibt es dort Rahmenrichtlinien für Sexualerziehung?“ - „Das Wort Sexualerziehung kann ich schon gar nicht mehr hören... Meine Eltern dulden zu Hause keine Sexhefte, aber was wir in der Schule öffentlich gezeigt bekamen, das darf nicht einmal in einem Sexheft gezeigt werden. Ein anständiges Mädchen muß sich doch in Grund und Boden schämen... So ein Unterricht wird einem zur Qual.“ Zwischen Papst und Biologie Zitate aus einer fränkischen Zeitung, angeblich von einem 16jährigen Schüler und einer 15jährigen Schülerin, mit denen vor einigen Jahren der „Freundeskreis Maria Goretti“ in Bayern und Baden–Württemberg Stimmung gegen den 1969 in allen Bundesländern eingeführten Sexualkundeunterricht machte. Inzwischen kann sich diese erzreaktionäre Gruppe, die sich in ihrer Verketzerung von Aufklärung und Sexualität auf Papst und katholische Kirche beruft, ihre Hetze zumindest in Baden–Württemberg sparen. Denn fast sang– und klanglos wurde dort längst wieder die schulische Sexualaufklärung auf ihr „biologisches Grundwissen“ reduziert, so Pressesprecher Kraft vom Kultusministerium. „Das primäre Elternrecht“, nach dem Eltern wie anno dunnemal ihre Kinder aufklären oder es auch lassen können, ist dort wieder voll in Kraft. Und auch in anderen Bundesländern steht es mit schulischer Sexualaufklärung nicht gerade zum Besten: In Bayern wurde die sexuelle Aufklärung in den Schulen nach Erkenntnissen von Professor Norbert Kluge, einem der führenden bundesdeutschen Sexualpädagogen, ohnehin nie besonders intensiv betrieben, und in Rheinland–Pfalz wurden ebenfalls in den letzten Jahren Lehrinhalte in diesem Bereich re duziert. „Ein Nord–Süd–Gefälle“, so Kluge, das allerdings nichts an der Tatsache ändere, daß in der gesamten Bundesrepublik „die schulische Sexualaufklärung hinter dem Mond“ sei. Noch immer - 17 Jahre nach ihrem Einzug in die Schulen - werde sie stiefmütterlich behandelt, noch immer seien Lehrer/innen in diesem Bereich völlig unzureichend ausgebildet. Bis heute, ist die zentrale Kritik Kluges, gäbe es an keiner bundesdeutschen Universität einen eigenständigen Lehrstuhl für Sexualpädagogik, und das Studienangebot im Bereich der Aus– wie der Fortbildung sei äußerst spärlich. Noch immer unterrichten zu 80 Prozent Biologielehrer diesen sensiblen Bereich. Hilflose Lehrer/innen Für viele Lehrer/innen, das ist auch die Erfahrung der früheren Pro–Familia–Bundesvorsitzenden Melitta Walter aus Fortbildungsveranstaltungen, steht die Vermittlung biologischer Vorgänge im Vordergrund, und vor allem emotionale Zusammenhänge blieben auf der Strecke. Es sei geradezu „erschütternd“, wie „hilflos und ängstlich“ viele Lehrkräfte sich zeigten angesichts der Aufgabe, über Sexualität in Verbindung mit Lust und Liebe zu sprechen. Entsprechend unterbleibt auch die in den meisten Rahmenrichtlinien für die Schulen geforderte Absprache zwischen Schule und Eltern. Die Lehrer/innen sind nach Ansicht von Prof. Kluge damit schlichtweg überfordert. „Klar, daß Theorie und Praxis manchmal auseinanderfallen“, erklärte der Pressesprecher des nordrhein–westfälischen Kultusministeriums dazu unbeeindruckt. Aber die Ausbildung der Lehrer/innen für diesen Bereich sei durchaus genügend. Dagegen gab der Pressesprecher des Schulsenats Bremen, wo gerade neue Richtlinien erarbeitet werden, bereitwillig zu, daß Sexualaufklärung und -forschung ein vernachlässigter, „schlecht finanzierter Bereich“ ist. Für ihn ist demnach klar, daß die Schule neben anderen öffentlichen Beratungsstellen in diesem Bereich wichtige Funktionen zu erfüllen hat, denn „viele Eltern sind froh, daß ihnen dieses Gebiet abgenommen wird.“ Verkorkste Sexualmoral Für sie ist die Aufklärung ihrer Kinder noch immer ein heikles Thema. Vermittlung biologischer Vorgänge alleine bringt nach den Erfahrungen von Melitta Walter den Jugendlichen nicht viel. Wichtig seien eine umfassende sexuelle Information und Aufklärung ohne moralischen Druck und falsche Scham. Denn repressive Sexualmoral und das Verbot von sexuellen Kontakten führten zu größerer Heimlichkeit und das Risiko ungewollter Schwangerschaften steige. Auch Untersuchungen in den USA und der BRD haben eindeutig ergeben, daß unzureichend aufgeklärte Jugendliche sehr viel häufiger schwanger werden als andere junge Frauen. Die gleichen Untersuchungen widersprechen der von Konservativen gehätschelten Ansicht, daß sexuelle Aufklärung Jugendliche zu frühzeitigen sexuellen Kontakten animiere. Andererseits haben Länder mit der besten Sexualaufklärung und einem freizügigen Zugang zu Verhütungsmitteln, wie beispielsweise Holland, die niedrigste Rate ungewollter Schwangerschaften bei Frauen unter 20 Jahren. Dennoch warnte Melitta Walter vor der ständigen Argumentation mit den niedrigen Schwangerschaftsraten. Denn „in allen andere Bereichen wird akzeptiert, daß Jugendliche eine Probierphase durchleben, sei es nun mit Alkohol oder Drogen.“ Das müsse auch im Bereich der Sexualität gelten, denn gerade in diesem sensiblen Bereich könne nicht erwartet werden, daß Jugendliche, und seien sie noch so umfassend aufgeklärt, sich ausschließlich nach Kopf und Verstand verhalten. Also: „Ungewollte Schwangerschaften sind nie auszuschließen.“ Teenager– Schwangerschaften Massive Kritik hat Melitta Walker an den schulischen Richtlinien für Sexualerziehung besonders in einem Punkt vorzubringen: Nirgendwo sei eine Auseinandersetzung mit dem Kinderwunsch vorgesehen. Doch erst dadurch, so ihre Erfahrung, ist für Jugendliche die Notwendigkeit von Verhütung nachvollziehbar. Diese Aus einandersetzung ist auch aus anderen Gründen bedeutsam: Im Zeichen der Wende steigt die Zahl der sogenannten „Teenager–Mütter“. Das Problem: „Gerade arbeitslose Mädchen flüchten sich in die Mutterrolle, um ihr Selbstwertgefühl zu heben. Ihnen geht es nicht um ein Kind“, weiß Frau Walter. Hochgradig verklemmt Und wenn auch in den letzten Jahren dank zunehmender Aufklärung die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen gerade bei jungen Frauen zurückgegangen ist, so wird die Dunkelziffer der Abtreibungen bei unter 20jährigen noch immer auf 20.000 bis 30.000 geschätzt. Probleme grundsätzlicherer Art, die nicht allein durch die Verbesserung der Sexualaufklärung zu beheben sind, zeichnet die Betreuerin in einem Berliner Jugendfreizeitheim auf: Wie in früheren Zeiten werden Mädchen, die sich Jungen gegenüber besonders freizügig zeigen, von der Mädchenclique isoliert und verächtlich behandelt. Auch von den Jungen werden diese Mädchen ausgenutzt und abgelehnt, ist Gabis Beobachtung. Ihr Fazit: „Nach außen sind die Jugendlichen heute vielleicht offener und freier, aber innerlich sind sie hochgradig verklemmt“ - was nicht weiter verwunderlich ist, solange die Erwachsenen ihnen das vorleben.