Keine Bleibe für sowjetische Oppositionelle

■ KGB setzte Angehörige der unabhängigen Friedensbewegung ins Flugzeug nach Wien / Neue und expandierende Oppositionsbewegung soll ausgedünnt werden / Verhaftungen nach fadenscheinigen Anschuldigungen

Aus Wien Walter Oswalt

Als sie mit dem Flugzeug aus Moskau in Wien landeten, richteten sich keine Fernsehkameras auf sie, keine internationale Pressekonferenz machte sie zu gefeierten Dissidenten, keine Telegramme mit Lehrstuhlangeboten von amerikanischen Universitäten trafen ein. Die hochschwangere Anna Nelidowa, ihr Mann Alexej Korostelew und ihr kleiner Sohn Nicolai sitzen seit dem Wochenende in dem zwölf Quadratmeter großen Raum eines Flüchtlingsheims in Wien. Der Raum ist ohne Kochgelegenheit, es gibt kein Telefon. Das Ehepaar war nur ein Jahr lang in der Moskauer „Trust– Group“, der unabhängigen Friedensbewegung der UdSSR. Jetzt mußte die Familie innerhalb von vier Tagen das Land verlassen. Der Anlaß: „Im Herbst machten wir eine Aktion für die inhaftierte Künstlerin Nina Kowalenko von der offiziellen Moskauer Ausstellung Künstler für den Frieden. Wir informierten die Besucher mit einem Transparent, daß die Künstlerin selbst zur politischen Gefangenen wurde, weil sie sich für politische Gefangene einsetzte. Als die vorbeikommenden Moskauer sich mehr für das Schicksal der Künstlerin interessierten als für die offizielle Kunstausstellung, wurde es den Behörden zu viel.“ Seit der Aktion standen Alexej Korostelew und Anna Nelidowa unter Hausarrest. Ihr Kind wurde auf dem Schulweg verfolgt und von der Schule ausgeschlossen. Dann kam es zur Festnahme Alexej Korostelews. Nach ein paar Stunden gab ihm die Polizei seine beschlagnahmte Tasche zurück. Alexej Korostelew: „In meiner Tasche waren geschnittene Kräuter, wahrscheinlich Drogen. Man hat sie in meine Sachen gesteckt, um uns kriminalisieren zu können.“ Wenige Tage später kam der „Vorschlag“, das Land zu verlassen. Um die komplizierten Ausreiseformalitäten brauchten sie sich nicht zu kümmern. Der KGB hatte alles für sie erledigt. Sie brauchten nur, wie Alexej mit einem traurigen Lächeln sagt, „freiwillig unterschreiben“. Anna, die in den nächsten drei Wochen ihr zweites Kind erwartet und jetzt Kontakte mit Wiener Friedensinitiativen sucht, ergänzt: „Wir wollten nie in den Westen. Aber nachdem man mir ge sagt hat: Wenn du nicht ruhig bist, wirst du kein gesundes Kind bekommen, war mir klar, um was es geht.“ Alexej und Anna wollen nach Frankreich. Schulterzucken auf die Frage wann und wie. Sie haben fast keine Kontakte im Westen. Anna ist Geschichtslehrerin und seit fünf Jahren mit Berufsverbot belegt. Alexej ist Physiker und Kinderpsychologe, seit sechs Jahren hat er Berufsverbot. Weil sie andere Oppositionelle in Moskau mit Kleidung, Lebensmitteln und Behördengängen unterstützt haben, mußte Anna ihr Geld mit dem Anfertigen von Souvenirs für die westlichen Touristen, russischen Folklorepüppchen, in Heimarbeit verdienen. Alexej arbeitete als Modell in Aktzeichenkursen. Alexej Korostelew bewertet seine Geschichte: „Der sowjeti sche Staat baut darauf auf, daß es auf der einen Seite vereinzelte Menschen gibt und auf der anderen Seite den großen Apparat. Wenn Menschen sich unabhängig organisieren, muß er es verhindern.“ Meistens hat sich die „Trust–Group“ mit 40 bis 60 Leuten in seiner Wohnung getroffen. In den letzten Wochen diskutierte sie über antimilitaristisches Kinderspielzeug. „Schon ein solches Gespräch kann zuviel sein“, sagt Anna. Am zweiten September stürmte die Polizei ihre Wohnung, sprengte die Diskussion und sperrte drei Mitglieder für zwei Wochen ins Gefängnis. Ist die „Trust–Group“ durch die Ausweisung und Verhaftungen zerschlagen? „Nein, wir machen weiter. Obwohl alleine im letzten Jahr 13 Mitglieder ausgewiesen wurden, sind wir bei den Treffen der Gruppe immer gleich viele gewesen. Natürlich ist es schlimm, daß Nina Kowalenko und jetzt auch Viktor Smirnow in psychiatrischen Gefängissen eingesperrt sind. Es ist furchtbar, daß Larissa Tschukaewa in einem Lager zwangsarbeiten muß. Es ist schlecht für die Gruppe, daß zwei von ihren Initiatoren, Olga und Juri Medwedkow, ausgewiesen wurden. Aber das ist nichts besonderes für uns. Wir arbeiten unter diesen Bedingungen seit Jahren. Phasen der steigenden und der nachlassenden Repression wechseln.“ Gibt es neben den Repressionen gegen die „Trust–Group“ keine Zeichen der Liberalisierung? Anna Nelidowa und Alexej Korostelew berichten von vagen Anzeichen zur Veränderung im Kulturbereich. Vor kurzem konnte ein Rockkonzert in Moskau stattfinden. Während eine unabhängige Kunstausstellung erst verboten und dann wieder erlaubt wurde, hat die Polizei eine Straßenausstellung verhindert. Die unklare Verbotspraxis läßt auf Widersprüche in der Bürokratie schließen. Für Alexej ist ein Fall für die Gorbatschow–Ära typisch: Die Dichterin Jrina Ratuchinskaja, die wegen fünf Versen zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ist jetzt frei. Aber sie kann nicht mehr laufen. Die sowjetischen Behörden verhindern ihre medizinische Versorgung.