„Alle greifen, die ins Chaotenbild passen“

■ Schleichende Verschärfung des Demonstrationsrechtes durch neue Festnahmekonzepte der Polizei / Mit Nahkampf, Video und nummerierten Handschellen zur „absolut sicheren Beweiskette“ / Vom beobachtenden Beamten zum polizeilichen Tatzeugen / taz–Serie zum „Sicherheitsstaat nach Tschernobyl“, Teil II

Von H.–G. Meyer–Thompson

Sie heißen Kletten, Greifer, Auf– Kdo, BeFe–, Bedok– oder BuD– Trupps: Polizeieinheiten, die bei Demonstrationen Straftaten dokumentieren und Täter festnehmen sollen. Seit Wackersdorf und Brokdorf gehören sie wieder zu den taktischen Trümpfen im Polizeikonzept. Über ihr Organisationsmodell zum Zwecke einer „höheren Trefferquote“ besteht allerdings Uneinigkeit. „Staatsbürgerliche Aufgabe“ Die Kundgebung vor dem AKW–Biblis war längst vorbei, die Teilnehmer hatten den Heimweg angetreten. Bis auf ein paar Knallkörper und Steinwürfe war alles ruhig geblieben; auch die Polizei hatte sich zurückgehalten. Plötzlich fuhren Polizeiwagen an den abrückenden Demozug, Beamte sprangen heraus und nahmen mitten aus den Reihen einen Demonstranten fest. Dieser Einsatz im Mai 1986 war die Premiere der neuen hessischen Beweis– und Festnahmeeinheit, kurz: BeFe, die „einzelne Straftäter beobachten und gezielt festnehmen soll“. Die uniformierten Freiwilligen aus der Bereitschaftspolizei sind seit dem Frühjahr an drei Standorten untergebracht. Erfahren in Nahkampf– und Festnahmetechniken erhalten sie ein zusätzliche psychologische Ausbildung, um, so der Sprecher des Innenministeriums Jan von Trott, für ihre „staatsbürgerliche Aufgabe besser motiviert“ zu sein. Festnahmen vor der Haustür Hessen will damit den anhaltenden Rufen nach einer Verschärfung des Demonstrationsrechts ein technisches Mittel entgegensetzen, mit dessen Hilfe beweissichere Festnahmen für den vorhandenen Strafrahmen getätigt werden sollen. Die Züge füllen vor Ort ein Konzept aus, das Tatbeobachtung, Dokumentation, anschließende Observation und Festnahme miteinander verbindet. Das hessische Modell ist ein alter Hut. West–Berliner Polizeistrategen haben ihn seit den 68er Demonstrationen mehrmals abgestaubt und um ein paar technische und taktische Accesoires bereichert. Bereits 1969 gab es ein 300 Mann starkes Festnahmekommando, das Polizeipräsident Klaus Hübner rückblickend als „überaus erfolgreich“ bezeichnet, zumal schon damals einzelne Demonstranten Stunden nach der Kundgebung von „Kletten“ in Zi vil „vor der Haustür“ festgenommen werden konnten. Mitte der 70er Jahre lösten Videoteams die herkömmlichen Polizeifotografen ab, weil man sich von Filmaufnahmen „aufgrund lückenloser Aufzeichnungen eines Geschehensablaufes in der Bewegung“, gekoppelt mit synchronen Tonaufnahmen, „die besten Sachbeweise“ vor Gericht versprach, wie es in einem Polizeipapier hieß. Doch die zwischenzeitliche Trennung von Dokumentations– und Festnahmetrupps führte zu „Problemen bei der Beweisführung“, da sich die beteiligten Beamten vor Gericht häufig genug in Widersprüche verwickelten und ihre Vorwürfe und konstruierten Beschuldigungen (bei einer pfiffigen Verteidigung) noch häufiger zerbröselten. Fazit eines Polizeiführers Ende der siebziger Jahre: „Es kam selten zu Anklagen und fast nie zu Verurteilungen.“ Auch das zu Hausbesetzungszeiten zusammengestellte Aufklärungs– und Festnahmekommando, im Amtsdeutsch Auf–Kdo genannt, konnte das steile Gefälle zwischen Anzahl der Straftaten, Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Anklagen und Verurteilungen nicht entscheidend verändern. So kam es immer häufiger zu Gewaltexzessen der Greifer, die ihren Mißmut über die so empfundene schlappe Haltung der Justiz lieber gleich an Ort und Stelle an Demonstranten austobten, als den Nerv langer Ermittlungswege und juristischer Auseinandersetzungen zu wählen. Wiederholte Übergriffe diskreditierten die Greiftrupps auch in Westdeutschland: In Bremen mußte der örtliche SEK–Chef seinen Hut nehmen, und in Hamburg kam das Turnschuhkommando aus sportiven Schreibtischbeamten nach Ausschreitungen gegen Hafenstraßen–Demonstrationen und einer Blockade des Springer– Verlagshauses im Herbst 1983 nicht mehr zum Einsatz, zumal gelegentlich auch Zivis im Demonstrationszug unter ihre Knüppel gerieten. Konstrukt einer „absolut sicheren Beweiskette“ Die Erfahrung, daß Festnahmen aus „gemischten“ Demonstrationen von „Störern“ und „Friedlichen“ häufig zu unerwünschten und nicht berechenbaren Solidarisierungseffekten führen, hatte Folgen. Bundesweit setzte sich in den folgenden Jahren das polizeitaktische Prinzip „Gefahrenabwehr“ gegenüber der Strafverfolgung durch. Mas sive Polizeipräsenz, eskortierende Demo–Begleitung, Kontrollen und Festnahmen im Vorfeld, technische Aufrüstung und gelegentlich verordnete Deeskalationsauftritte erhielten Priorität vor der Steigerung von Festnahmeziffern. Währenddessen machte sich eine Arbeitsgruppe des nordrhein–westfälischen Innenministeriums daran, „eine absolut sichere Beweiskette“ zu entwickeln, „beginnend bei der Tatausführung und endend bei der Abgabe des Vorganges an die Staatsanwaltschaft“. Ein Artikel im Fachmagazin Bereitschaftspolizei - heute (9/86) beschreibt die Umsetzung des Konzeptes in ein „System..., das in sich logisch geschlossen ist“. Bei zwei Bereitschaftspolizeiabteilungen wurden jeweils 20köpfige Kader zusammengestellt, die in 30 mehrtägigen Schulungen auf ihre Spezialaufgaben vorbereitet wurden. Sie bilden einen eigenständigen Einsatzabschnitt in den vorderen Linien der Polizeieinheiten und sind dem zuständigen örtlichen politischen Kommissariat unterstellt. Zu ihren technischen Ausrüstung gehören neben Videogeräten und leichter Ausrüstung auch nummerierte Plastikfesseln, um spätere Verwechslungen von Festgenommenen zu vermeiden. Der tatbeobachtende Beamte soll den Verdächtigen selbst observieren und nach Möglichkeit auch festnehmen. Abgenommene Gegenstände werden von ihm mit „selbstklebenden Nummernabschnitten“ gekennzeichnet, und der Festgenommene bis zur ersten Vernehmung bei der Kripo begleitet. In einer eigens eingerichteten Gefangenensammelstelle (GeSa) wird der angebliche sachverhalt notiert und die ED–Behandlung durchgeführt. Bei den bisherigen 20 Großeinsätzen der GeSa–Kader kam es zu 250 Festnahmen; „aufgrund der guten Beweislage und der wenigen Nachermittlungen“ ist es „überwiegend zu Verurteilungen gekommen“, vermerkt der Bericht stolz. Der „Einsatzerfolg“ bleibt somit nicht mehr „überwiegend dem Zufall überlassen“, und auch „Massenverhaftungen, die ausschließlich Ingewahrsamnahmen beinhalten“, und „beweissicherungsmäßig keine Bedeutung“ haben, können weitgehend vermieden werden. „Höhere Trefferquote“ Auch die Hamburger Polizei stellt seit einigen Wochen 30 in Selbstverteidigung und Karate geschulte Beamte zu einer „selbständig handelnden Einheit“ zu sammen, die, so Innensenator Alfons Pawelczyk, eine „höhere Trefferquote“ erzielen soll. Ein Unsicherheitsfaktor bleibt dennoch: der Beamte vor Gericht. Trotz jahrelanger Schulung für Zeugenauftritte hapert es häufig an der „Prozeßfestigkeit“ der Greifer. Und in der Regel sind die Bilddokumente der Verteidigung schon deshalb besser, weil die Aufzeichnungen der Polizei heftig zusammengeschnitten werden müssen, da sie meist auch Straftaten von Polizisten im Einsatz fest gehalten haben. Da hilft dann nur eine gut organisierte Betreuung der Belastungszeugen: „Der tatbeobachtende Beamte ... erhält eine Durchschrift, damit er sich vor Beginn eines Strafverfahrens informieren kann“, heißt es im allgemein zugänglichen bepo–heute– Magazin. Hinter den verschlossenen Türen der Polizeiführungsakademie klingt das dann schon weit offenherziger: „Die polizeilichen Tatzeugen werden unter Ausschöpfung und Beachtung aller gesetzlichen Möglichkeiten auf ihr Auftreten in der Hauptverhandlung vorbereitet“, formulierte der Leitende Polizeidirektor im NRW–Innenministerium, Manfred Quentin, im Sommer vor einer Schar ausgesuchter Spießgesellen. „Alle greifen“ Soweit ist man in Bayern noch lange nicht: Im Freistaat betrachten die Ingenieure des Atomstaates das Stichwort „differenzierte Maßnahmen“ als eine Form liberaler Subversion. Polizeitaktik wird hier in der Regel als „Hau drauf!“ buchstabiert - technisch setzt man auf CS, Gummigeschosse und allerlei anderes Gerät aus den Arsenalen und träumt davon, „hart agierende Störer mit einer Farbsubstanz markieren“ zu können. Ununterbrochen treiben bayerische CSU–Rechtspolitiker deshalb ihre Pläne voran, den wilhelminischen Landfriedensbruchsparagraphen wieder einzuführen und das Vermummungsverbot gesetzlich zu verankern. Für Analysen und gezielte Konzepte bleibt da wenig Raum, gerade die Aufstockung der Videoteams fand noch Gefallen im Kabinett. Mit ungewöhnlichen Auswirkungen: Aus den kilometerlangen Filmstreifen stellten die Ermittlungsbehörden einen Fahndungsfilm zusammen, den sie Mitte September in Eduard Zimmermanns Sendung „XY–ungelöst“ bundesweit ausstrahlen ließen. Kurz zuvor hatte der Münchner Ministerialrat Karl–Heinz Lenhard in der Polizeiführungsakademie auf den Punkt gebracht, wie sich das Innenministerium die Befriedung des Anti–WAA–Protestes vorstellt: „Man wird alle greifen müssen, die ins Chaotenbild passen.“