Taiwan: Tauwetter kommt schon im Herbst

■ Nach 37 Jahren wird auf Formosa das Kriegsrecht abgeschafft / Erstmals sind Oppositionsparteien zugelassen / Zivilisten sollen nicht mehr vor Militärgerichte / Umweltschutzbewegung meldet sich energisch zu Wort / Kuomin–Tang–Regierungspartei will Reformen und „nationale Versöhnung“

Von Jürgen Kremb

Vorsichtshalber mahnte der Präsident in einem Rundschreiben vom 8. Oktober seine Parteikollegen noch einmal „zur Einheit“. Die sich „ändernde Situation“ und die sich „ändernden Trends“ in der Welt und im Lande erforderten dies. Acht Tage später setzte der 76–jährige Chiang Ching–Kuo, ältester Sohn Chiang Kai–Sheks, zur größten innenpolitischen Kehrtwende seit dem Tod seines Vaters im Jahre 1975 an. Das seit 37 Jahren andauernde Kriegsrecht, verkündete das Staatsoberhaupt der „Republic of China“ auf Taiwan, werde schon in Kürze aufgehoben. Dann sollen auch neben seiner alleinregierenden Nationalen– Volkspartei, auf Chinesisch Kuomin–Tang (KMT), legale Oppositionsparteien zugelassen sein. Springt die KMT damit nicht nur als Weltrekordhalter in Wirtschaftswachstum, sondern auch in fortdauerndem Kriegsrecht offensichtlich über ihren eigenen Schatten, so ist diese Entwicklung eigentlich nur Ausdruck des innenpolitischen Tauwetters, das sich in Taiwan seit Beginn dieses Jahres bemerkbar macht. Die in der sogenannten Dangwai–Bewegung organisierten politischen Gegner der KMT waren Präsident Chiang dabei schon drei Wochen zuvorgekommen. Im Hinblick auf anstehende Wahlen zum 6. Dezember hatten sie in den letzten Septembertagen mit der „Democratic Progress Party“ (DPP) Taiwans erste Oppositionspartei ins Leben gerufen. In den sechziger und siebziger Jahren hatten solche Versuche stets mit hohen Gefängnisstrafen der Akteure geendet. Denn seit General Chiang Kai–Shek sich 1949 nach der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg mit zwei Millionen seiner Anhänger auf die Insel von der Größe Hollands zurückzog, regierte er dort im Ausnahmezustand. Sowohl das Kriegsrecht als auch das „vorübergehende Gesetz für die Dauer des kommunistischen Aufstandes“ waren 1948 in China installiert worden, gelten aber bis heute auf Taiwan weiter. Entwickelte sich Formosa unter der KMT zwar zum wirtschaftlichen und sozialen Vorbild als industrielles Schwellenland in Ostasien, so zementierte die Partei mit ihren Notstandsverordnungen die Gesellschaft Chinas der vierziger Jahre auf der subtropischen Insel. In dem heute nach Bangladesch dichtbesiedelsten Flächenstaat der Erde waren Parteineugründungen ebenso verboten wie nächtliche Tanzveranstaltungen und wilde Streiks. Frei gewählt werden können nur lokale Parlamente. Die anderen politischen Organe vertreten nach KMT–Anspruch nämlich noch ganz China. Hier kann die taiwanesische Bevölkerung nur prozentual mitbestimmen - ihrem 20–Millionen– Einwohneranteil an ganz China gemäß. Rechtfertigte die Regierungspartei dies stets mit dem „Kriegszustand“ und der „drohenden Gefahr eines Angriffs“ des kommunistischen Erzfeindes, so mag diese „Urangst der Partei (das Hongkonger Magazin Zhengming) auch den Beginn des diesjährigen Tauwetters markiert haben. Völlig überraschend rief der von einer starken Diabetes angeschlagenen Präsident im März seine Partei zur „nationalen Versöhnung mit allen Bereichen der Gesellschaft“ auf. Gemeint war damit in erster Linie die Dangwai. Die Oppositionsbewegung, die sich als lose Plattform „Dangwai“ (außerhalb der Regierungspartei) zu Beginn der achtziger Jahre formiert hatte, und bei Wahlen der KMT stolze 20 bis 30 Prozent der Stimmen wegnahm. Sicherlich war es ein Zufall, daß wenige Tage danach die Regierung durch die Entführung eines Fracht–Jumbos nach China ihre Politik der „Drei Neins“ (keine Kompromisse, keine Verhandlungen, keine Kontakte) aufgeben mußten, um mit dem feindlichen Bruder in Rückführungsgespräche einzutreten. Doch zeigte dies sehr genau den außen politischen Spielraum des Schwellenlandes. Nachdem der Hongkong–Vertrag geklärt ist, bald Macau heim ins chinesische Reich geführt werden kann, ist Taiwan der letzte weiße Fleck auf Den Xiaopings Landkarte des vereinten China. Objekt volkschinesischer Begierde Die diplomatische Trickkiste dafür ist schon aufgemacht. Als im Sommer etwa die argentinische Marine einen taiwanesischen Fischtrawler in ihren Hohheitsgewässern versenkten, übernahm es die VR China, dafür ungefragt eine Protestnote zu überreichen. In anderen Ländern will die Regierung aus Peking eine eigene Vertretung für „ihre Provinz Taiwan“ eröffnen. Selbst eine militärische Aktion schloß ein Vertreter der KPCh in einem Interview mit dem Hongkonger Far Eastern Economic Review nicht aus, falls „Taiwan sich einseitig unabhängig erklärt und den Alleinvertretungsanspruch fallenläßt, mit den Sowjets paktiert oder ein innenpolitischer Aufruhr ausbricht“. Was die KMT und Präsident Chiang Ching–Kuo also brauchen, ist ein geeintes Land und innenpolitischen Frieden. Das aber geht offensichtlich nur mit Demokratie und Reformen. Am Verhandlungstisch ging es deshalb im Frühjahr und Sommer dieses Jahres zwischen KMT und Dangwai um die sogenannten „sensitiven taiwanesischen Fragen“: Zulassung einer Oppositionspartei, Ende des Kriegsrechts, Selbstbestimmung der lo kalen Parlamente, Verjüngung der „gesamtchinesischen“ Gremien durch Wahlen und Verbesserung der KMT–Verwaltung. Als die Gespräche scheiterten, setzte jedes Lager getrennt zu seinem „großen Sprung nach vorne“ an. Die Dangwai tat es der Gruppe um die im amerikanischen Exil lebenden Politiker Hsieh Tsung– Ming und Hsu Hsi–Liang gleich und formierte sich als Partei. Hsu, der sich gerne mit einem Hang zur Dramatik mit der philippinischen Präsidentin Aquino vergleicht, und Hsieh wollen nach Taiwan zurück.Erwartet die beiden zwar dort eine Haftstrafe wegen politischer Aktivitäten aus den siebziger Jahren, so hoffen sie doch auf einen Empfang von 200.000 Anhängern, so Hsieh in einem Anflug von Selbstüberschätzung in einem Interview mit Dritte–Welt–Gruppen in Hamburg - und auf die Milde der KMT. Die Regierungspartei selbst entschloß sich jetzt zu ihrem bisher weitestgehenden Reformprogramm. Das Kriegsrecht wird zwar durch ein Gesetz „zur nationalen Sicherheit“ ersetzt. Doch ist das in erster Linie auf die beiden Eilande Mutzu und Jinmen zuge schnitten, die zu Taiwan gehören, aber einen Steinwurf weit vor der Küste Chinas liegen. Auf Formosa selbst können in Zukunft Zivilisten nicht mehr von Militärgerichten verurteilt werden. Das wird auf Dauer eine Machteinbuße für den mächtigen Geheimdienst bringen, die unter dem Kriegsrecht Gerichtsverfahren in ihren militärischen Aufgabenbereich ziehen konnten. Außerdem soll es keine Beschränkungen bei Partei–Gründungen mehr geben, versicherte Präsident Chiang Ching–Kuo Anfang Oktober in einem Interview mit amerikanischen Reportern. „Sie müssen nur grundsätzlich antikommunistisch sein.“ Steht die von Chiang Ching– Kuo angekündigte Veränderung der Gesellschaft vorerst noch auf wackligen Beinen, weil es dazu noch parlamentarischer Schritte bedarf, so gab der Wind der Reform zahlreichen Umweltschutzbewegungen in diesem Jahr enormen Auftrieb. Trotz Demonstrationsverbot sah das Schwellenland mit drei AKWs in den Monaten nach Tschernobyl seine ersten Protestaktionen gegen Atomkraft. In Lugang, einer historisch gewachsenen Fischerstadt an der Ostküste, gingen die Anwohner erstmals massiv gegen die Inbetriebnahme einer chemischen Dreckschleuder durch den amerikanischen Konzern Dupont auf die Straße. Trotz garantierten „700 Arbeitsplätzen und keinen Umweltgefahren“, so die ausländischen Firmensprecher, gaben die Anwohner nicht nach. Für zahlreiche Demos ließen sie sich T– shirts anfertigen, auf denen zu lesen war: „We love Lugang not Dupont.“ Wo allerdings die Grenzen der politischen Aktionsfreiheit sind, zeigte die Verurteilung des Dangwai–Politikers Lin Chen–Chieh zu 18 Monaten Anfang September. Er hatte, so die regierungsnahe China Post, beim Wahlkampf im Oktober 1985 gegen die Wahlgesetze verstoßen und seinen Gegner damit „um den Sieg gebracht“. Lin nutzte die Gunst der Stunde und zog knappe zwei Wochen vor Antritt der Strafe mit kahl geschorenem Kopf, umringt von Tausenden von Anhängern, fast täglich durch die Straße der Hauptstadt Taipei. Sollte die KMT auf liberalen Reformpfaden bleiben und die DPP zu den Wahlen am 6. Dezember zulassen, könnten in Taipei jahrzehntelang erstarrte Strukturen bald in Fluß geraten.