: Beamte wegen Fundamentalismus verhaftet
■ Das staatliche Planungsamt in Ankara war von Gegnern des türkischen Laizismus „unterwandert“ / Leiter des Amtes ist Bruder des Ministerpräsidenten / Auch Militär kritisiert nach Enthüllungen den personellen Filz zwischen Regierung und islamischen Sekten
Aus Istanbul Ömer Seven
„Irtica“, eine spezifisch türkische Verbalinjurie, dem Wortsinn nach übersetzbar mit „politischer, religiöser Reaktion“, ist seit Tagen Hauptschlagzeile in den türkischen Zeitungen. Jeden Tag erscheint eine neue Pressemeldung über illegal tätige islamische Sekten, und 100.000 Schüler wollen landesweit von selbsternannten religiösen Sektenführern in der „Lehre“ unterwiesen werden. Ihren Gipfelpunkt erreichten die „Irtica“–Meldungen mit den 22 Verhaftungen, die der Staatsanwalt beim Staatssicherheitsgericht Ankara am Dienstag verfügte. Aufgrund „antilaizistischer Umtriebe“ wurde Haftbefehle gegen führende Beamte des staatlichen Planungsamts - einer unmittelbar dem Ministerpräsidenten Özal unterstehenden Behörde - erlassen. Das türkische Boulevardblatt Hürriyet, die auflagenstärkste türkische Tageszeitung, hatte zuvor eine reich bebilderte Enthül lungsserie über das staatliche Planungsamt gestartet, die ans Tageslicht brachte, wie eng die islamischen Sekten mit der Administration personell verquickt sind. Ein hoher Mitarbeiter des Planungsamtes packte aus: In den Korridoren des Planungsamtes erklängen Gebetsrufe, in den Gebetsräumen entschieden Sektenführer über die Vergabe von Subventionen in Millionenhöhe, der republikanische Staatsgründer Atatürk, der aus der Türkei einen säkularen Staat gemacht hat, werde verhöhnt. Nach Erscheinen der Hürriyet–Enthüllungen wurde der Experte des staatlichen Planungsamtes Iskender Evranosoglu während einer Sektenzeremonie zusammen mit seinen Novizen verhaftet. Ein Buch, von dem Evranosoglu behauptet, Gott habe es ihm zuge sandt, und Videoaufnahmen vergangener geheimer Zeremonien fielen der Polizei in die Hände. Der Leiter des staatlichen Planungsamtes ist der Bruder des Ministerpräsidenten, Yussuf Özal, der den Ideen des islamischen Fundamentalismus nahesteht. Hinzu kommt, daß führende Mitglieder der Regierungspartei, Staatssekretäre und hohe Beamte, die dem islamischen Fundamentalismus ergeben sind, Beteiligungen an den in der Türkei tätigen saudi–arabischen Kapitalgruppen Al Baraka und Feisal–Finance–AG aufweisen. Dies ist umso delikater, als das staatliche Planungsamt Schaltstelle für die Modalitäten bei ausländischen Kapitalinvestitionen ist. Bevorteilung der saudischen Kapitalisten wird dem Planungsamt vorgeworfen. Auch die Militärs, ansonsten der Regierung Özal sehr wohlgesonnen, kritisieren indirekt die Regierung. Der Ex–Putschist und gegenwärtige Staatspräsident Evren sprach anläßlich seiner Reise durch die Provinz Denizli von Gehirnwäsche an Jugendlichen, die in illegalen Korankursen betrieben werde. Der Staat sei bislang untätig, er müsse intervenieren. Die Regierung Özal, die den islamischen Fundamentalismus bislang augenscheinlich gefördert hat, wird sich in Zukunft mit öffentlichen Auftritten, die dem islamischen Fundamentalismus schmeicheln, wohl ein wenig zurückhalten müssen. Der schleichende, stille ideologische Wandel in der Gesellschaft ist ohnehin auf ihrer Seite.
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