Brasiliens Mittelstand wird zur Kasse gebeten

■ Kurz nach den Wahlen hat die brasilianische Regerung drastische Preis– und Steuererhöhungen verordnet / Der Wirtschaftsboom der vergangenen Monate soll gedrosselt werden / Umschuldungsverhandlungen stehen bevor

Von Gabriela Simon

So paradox es klingen mag: In Brasilien haben die Wähler die Wahlen verloren. Nur sechs Tage, nachdem sie den Regierungsparteien in den Kongreß– und Gouverneurswahlen vom 15. November vor allem für deren wirtschaftspolitischen Kurs ihr Vertrauen ausgesprochen hatten, bekamen sie die bittere Quittung serviert. Die Stimmen waren noch nicht einmal ganz ausgezählt, als die Regierung in Brasilia ein neues wirtschaftspolitisches Maßnahmenpaket verkündete, das die Hoffnungen der brasilianischen Wähler zunichte machte: drastische Preis– und Steuererhöhungen, Stellenabbau im öffentlichen Sektor und regelmäßige Abwertungen des Cruzado, der erst neun Monate alten und bislang stabilen brasilianischen Währung. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Schon wenige Tage nach dem Schock breitete sich in den größeren Städten eine Welle von Protestaktionen aus, die linke Gewerkschaft CUT will zum 12. Dezember für einen Generalstreik mobilisieren. Aber auch innerhalb der größten Partei des Regierungsblocks, der PMDB, regt sich heftige Kritik - so heftig, daß sogar Finanzminister Funaro seinen Hut nehmen wollte und nur durch die Intervention des Präsidenten Sarney noch daran gehindert wurde, durch seinen Rücktritt eine größere Regierunskrise auszulösen. Auf seiten der Linken, der Gewerkschaften, aber auch innerhalb der PMDB, mehren sich wieder die Stimmen, die vor allem eines fordern: die sofortige Einstellung der Zinszahlungen an die ausländischen Gläubiger. Ende Februar dieses Jahres hatte die Regierung unter Präsident Sarney scheinbar einen Ausweg aus der galoppierenden Inflation und dem ständigen Clinch des mit 110 Mrd. Dollar verschuldeten Landes mit den ausländischen Gläubigerbanken und dem IWF gefunden. Der am 28. Februar verabschiedete Wirtschafts–“Plan Cru zado“ sollte das Kunststück vollbringen, gleichzeitig die Inflation zu drosseln und die Zinszahlungen an die ausländischen Banken sicherzustellen, ohne die Wachstumsdynamik der brasilianischen Wirtschaft zu bremsen. Die Logik der Sanierungsprogramme des IWF, die die finanzielle Stabilisierung der Schuldnerländer stets mit Rezession und Verelendung erkaufen, sollte durchbrochen werden. Im wesentlichen bestand der Cruzado–Plan aus einem unbefristeten Preisstop, der aber nicht an einen Lohnstop gekoppelt war. Tatsächlich brachte der Cruzado–Plan erstaunliche Erfolge: Bei einem Wirtschaftswachstum mit einer Jahresrate von über sieben Prozent sank die Inflation von 250 Prozent im Februar rasch auf unter zehn Prozent ab. Der Wirtschaftsboom brachte der brasilianischen Bevölkerung bis zu den Wahlen einen durchschnittlichen Kaufkraftzuwachs von 15 %. Und auch der Schuldendienst war mit einem monatlichen Exportüberschutz von einer Milliarde Dollar gesichert. Statt der unvermeidlichen Verelendungsprozesse im Gefolge der IWF–Sanierungsprogramme bewirkte der Cruzado–Plan einen sprunghaften Anstieg des Konsums, von dem auch die unteren Klassen profitieren konnten. Sogar die ausländischen Gläubiger waren zufrieden: angesichts der finanziellen Stabilisierung stimmten sie im Sommer einem umfangreichen Umschuldungspaket zu, ohne - wie üblich - eine Vereinbarung mit dem IWF zu fordern. Dennoch war an diesem brasilianischen Wirtschaftsboom etwas faul: Ein Land, das allein durch Zinszahlungen einen jährlichen Blutverlust von 12 Mrd. Dollar erleidet, kann nicht gleichzeitig mehr konsumieren, ohne daß an irgendeiner Stelle Defizite entstehen. Und diese Defizite entstanden - sichtbar zu allererst in den Läden, deren Regale zusehends leerer wurden. Die Produzenten, sprich: die Industriellen und die Großgrundbesitzer, waren nicht gewillt, sich bei zunehmender Steuerbelastung und steigenden Löhnen ihrer Arbeiter und Angestellten an den Preisstop zu halten. Während die gängigen Programme des IWF die wirtschaftliche Sanierung durchweg auf Kosten der unteren Klassen betreiben, wurde mit dem Cruzado–Plan der umgekehrte Weg versucht: Die steigende Nachfrage begünstigte zwar wirtschaftliches Wachstum, aber der gleichzeitige Preisstop drückte auf die Gewinnspanne der Unternehmer, was diese natürlich nicht einfach hinnahmen. Zu den schärfsten Gegnern des Cruzado–Plans wurden in diesem Konflikt die Viehzüchter, die in einen regelrechten Produktionsstreik traten. Fleisch und Milch waren oft nur noch unter dem Ladentisch zu stark erhöhten Preisen zu haben. Schließlich sah sich die Regierung gezwungen, Milchpulver aus Europa zu importieren. Gelöst wurde dieser Konflikt bis heute nicht. Die gestärkte Kaufkraft der Brasilianer, zusammen mit den internen Versorgungsschwierigkeiten, führten vielmehr dazu, daß der Exportüberschuß abnahm und im Oktober auf 200 Millionen Dollar absackte. Die Devisenreserven schrumpften im November um eine Milliarde Dollar - ein Alarmsignal für die brasilianische Regierung. Denn Ende dieses Jahres stehen neue Umschuldungsverhandlungen mit den Gläubigern an. Und dann wird es darauf ankommen, den internationalen Banken finanzielle Stabilität und Zahlungsfähigkeit zu präsentieren. Die neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen folgen - wie die IWF–Programme - einer rezessiven Logik. Durch die Preiserhöhungen soll die Nachfrage gedrosselt werden. Der Abbau von über 30.000 Stellen im öffentlichen Sektor und die Schließung von vier unrentablen Staatsbetrieben sollen die Ebbe in der Staatskasse ausgleichen. Gleichzeitig werden die Exporte verstärkt gefördert: Zum einen durch regelmäßige Abwertungen des Cruzado, zum anderen durch gezielte Subventionierung der Exportproduktion. Im Resultat bewirken die Maßnahmen eine Umverteilung vom Konsum in die Exportproduktion. Dennoch ist auch das neue Wirtschaftspaket nicht einfach mit den Sanierungsprogrammen des IWF gleichzusetzen. Der Cruzado–Plan arbeitet also auch in seiner revidierten Fassung nicht mit marktwirtschaftlichen Mitteln. Die Preise werden nicht liberalisiert, sondern gezielt erhöht. Grundnahrungsmittel und Mieten beispielsweise sind von den Preissteigerungen ausgenommen. Erhöht wurden die Preise von Autos (80%), Benzin (60%), Zigaretten und Alkohol (100%), Telefon (30%), Elektrizität (40%), Zucker (25%) und Taxi–Tarife (24%). In erster Linie ist von diesen Preiserhöhungen der brasilianische Mittelstand betroffen - aber auch der relativ gut verdienende Teil der Industriearbeiterschaft. Die untersten Einkommensschichten aber sind - im Gegensatz zur üblichen Praxis der IWF–Programme - von den Preiserhöhungen nicht unmittelbar betroffen. Dennoch: Die verordneten Preiserhöhungen werden die Transport– und Produktionskosten der Unternehmen erhöhen und so auf alle Preise inflationären Druck ausüben. Soweit bei den indexierten Grundnahrungsmitteln Preissteigerungen nicht möglich sind, werden die Versorgungsengpässe zunehmen. Der Traum vom Wirtschaftsboom und steigendem Lebensstandard in einem abhängigen Schuldnerland dürfte in Brasilien fürs erste ausgeträumt sein. Aber auch die von den Gläubigern so sehr geschätzte politische Stabilität ist in Brasilien brüchig geworden. In den Protestaktionen der vergangenen Wochen gewann eine alte Forderung wieder an Gewicht, die in den Monaten des Wirtschaftsbooms schon fast vergessen worden war: Die Forderung nach einem einseitigen Schuldenmoratorium und einem sofortigen Abbruch der Zinszahlungen.