„Kotau gegenüber dem Umfeld DDR“

■ Eine „Mittwochsrunde“ in West–Berlins Alternativer Liste löst mit „20 Thesen zu West–Berlin“ Widerspruch in der eigenen Partei aus / Eine „Drei–Staaten–Theorie“ bei den Alternativen nicht erwünscht

Von Benedict M. Mülder

Berlin(taz) - Mit einem angeblichen Zitat des Berliner Senatssprechers Fest (CDU) - „Wer auf einer Insel lebt, darf sich das Meer nicht zum Feinde machen“ - wollte die AL–Abgeordnete Annette Ahme aus Kreuzberg am Mittwochabend bei einer Veranstaltung im Rathaus Schöneberg zur Beruhigung der Debatte beitragen. Ausgelöst wurde diese durch ein in monatelanger Arbeit entstandenes Papier vornehmlich Kreuzberger Hinterzimmerstrategen, darunter der frühere Bundestagsabgeordnete Dirk Schneider und der Ex–RAF–Anwalt Klaus Croissant. In „20 Thesen zu West–Berlin“ wird die Halbstadt „nicht als nationale Aufgabe, sondern als Brücke des Friedens zwischen Ost und West“ definiert. Die Stadt müsse endlich Abschied nehmen von den Illusionen und Lebenslügen der Nachkriegszeit und sich eine eigene Identität und neue Aufgaben schaffen. Die These wurde weder von den 80 Teilnehmern der Veranstaltung bestritten, noch dürfte sie „draußen in der Stadt“ auf Widerspruch stoßen. Die Diskussion über dieses Thema hat Tradition, mal ist von Drehscheibe die Rede, mal von einer „Stadt des Dialogs“ (Bürger meister Diepgen).Neu daran ist, daß eine links–dogmatische Strömung der zweitstärksten Berliner Oppositionspartei AL beinahe nahtlos mit der pragmatischen Berlin–Politik der Regierungspartei übereinstimmt. Sogar im Kern sind sie sich, auch wenn es anders gewichtet sein dürfte, einig: Möglichst wenig Antikommunismus. In der Sprache der „Thesen“ heißt es: „Eine anhaltende Normalisierung wird nicht möglich sein, solange versucht wird, die östlichen Gesellschaften zu verteufeln oder zu versuchen, die Menschen dort gegen ihre Regierungen zu mobilisieren.“ Für den „Realpolitiker“ und AL–Abgeordneten Wolfgang Schenk kommt dies einem „vorauseilendem Gehorsam“ gleich. Das „liebevoll angepaßte Verhalten“ sei ein „Kotau“ gegenüber dem die Stadt umgebenden Umfeld DDR. Zur grundsätzlichen Kritik am Thesen–Konzept einer „eigenen Außenpolitik“, einer „finanziellen und wirtschaftlichen Selbstregulierung“ der Stadt, die sich nach Meinung der Thesenschreiber „sklavisch an den Bund anpaßt“ und durch das Besatzungsrecht gefesselt ist, gesellten sich handfeste praktische Erwägungen. Angeführt wurden die finanzielle Abhängigkeit und die vielfältigen strukturellen Verknüpfungen mit dem Rechts– und Sozialsystem der Bundesrepublik. Wenn man schon den Sonderstatus der Stadt beseitigen wolle, dann doch nur über eine Angleichung mit den Bundesländern, lautete eine Gegenforderung. Die Thesen selbst jonglieren mit dem Status. Mal soll er abgeschafft, mal die Chance der Sonderrolle genutzt werden. Abstrus und unausgegoren, lautete das Urteil der meisten Redner, die ihnen allerdings, wie die Berliner SPD, den Charakter eines „Denkanstoßes“ nicht absprechen wollten. Michael Wendt, AL–Vorstandsmitglied und früherer Abgeordneter hat, in einem Vorwurf an die Verfasser der Thesen die Richtung gewiesen: „Ihr schreibt, was hier zu ändern ist, was sich aber auf der anderen Seite verändern müßte, schreibt ihr nicht!“