„Verlassen Sie das gefährdete Gebiet“

■ Was deutsche Behörden nach einem Super–GAU vorhaben / Ein Bericht von Niklaus Hablützel

Die Katastrophenschutzpläne, die in den Amtsstuben des Landkreises Pinneberg liegen, wurden der taz zugespielt. Die dortige Bevölkerung ist gleich von drei Atomkraftwerken bedroht: Brokdorf, Brunsbüttel und Genauigkeit in den Griff zu bekommen.

„Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Im Kernkraftwerk Stade hat sich ein kerntechnischer Unfall ereignet, durch den radioaktive Stoffe freigesetzt worden sind.“ Der Einsatzwagen rollt langsam durch die kleine Gemeinde Seestermühe, ein 500– Seelen–Flecken im Landkreis Pinneberg und nur wenige Kilometer nordwestlich von Hamburg. Drei Ratschläge haben die Polizisten der verschreckten Bevölkerung zu geben: „Halten Sie sich nicht im Freien auf! Schließen Sie Fenster und Türen! Schalten Sie das Radio - NDR 2 - oder das Fernsehen - 1. Programm - ein und warten Sie auf weitere Mitteilungen.“ NDR 2 ist auch ohne „kerntechnischen Unfall“ eine Katastrophe, aber an diesem Tag ist das Programm besonders unerfreulich. In mehrmaliger Programmunterbrechung wird auf den Unfall im AKW Stade hingewiesen, werden Namen von Ortschaften genannt, für deren Bewohner zusätzlich „folgendes angeordnet“ wird: „Schalten Sie Lüftungs– und Klimaanlagen aus! Suchen Sie im Haus möglichst Keller oder innenliegende Räume auf!“ Für die Bauern: „Bringen Sie Vieh und andere Haustiere in geschlossene Räume! Geben Sie Tieren kein Wasser oder Futter, das offen im Freien gelagert war!“ Und für alle: „Leisten Sie den Weisungen der Polizei und der Einsatzkräfte Folge!“ Wer diese „Einsatzkräfte“ sind, werden die Seestermüher bei ihrer Evakuierung (“Falls Sie ein Kraftfahrzeug haben, verlassen Sie das gefährdete Gebiet über folgende Straßen...“) bald erkennen: Polizisten, Feuerwehrleute aber auch Bundeswehreinheiten, die Straßen und Brücken absperren. Wie die Evakuierung abläuft, wird bis in alle Einzelheiten von einem Evakuierungsplan geregelt. Dieser Plan ist wiederum Teil eines dicken Aktenordners, der in den Amtsstuben derjenigen Gemeinde und Landkreise für den Ernstfall zugriffsbereit deponiert ist. Seite für Seite ist abgestempelt: „VS - Nur für den Dienstgebrauch!“ Die Verschlußsachen enthalten Formulare, Dienstanweisungen und Telefonnummern, darunter auch die des nächsten Territorialkommandos der Bundeswehr. Tschernobyl ist weit, sehr viel weiter von Pinneberg entfernt als die Atomkraftwerke Stade, Brunsbüttel und Brokdorf. Ein versprödeter Veteran das eine, um ein Haar an der Kernschmelze vorbeigeschrammt das andre, zum Symbol des westdeutschen Atomstaates wurde das dritte. Alle drei liegen am Rande des Schleswig– Holsteinischen Landkreises Pinneberg. Brokdorf ging diesen Oktober ans Netz. „November 1986“ datiert ein internes Schreiben der Kreisbehörde, das die aktuellen Ergänzungen des seit dem 15. Februar 1980 geltenden und jährlich per Unterschrift des Landrates bestätigten Katastrophen–Planes veranlaßt. In diesem Jahr mußte etwas nachgetragen werden: Der Name „Brokdorf“ wurde in etwa 30 Fällen in den Text eingefügt und drei zusätzliche - gelbe - Blätter in den Ordner gelegt. Das erste ist ein Kartenausschnitt des Unterelberaumes. Um den neuen Reaktor in Brokdorf sind drei Kreise für die drei abgestuften Gefahrenzonen im Abstand von 2, 10 und 25 Kilometern gezogen. Nur der äußerste Ring streift den Landkreis. Es folgt ein Zuständigkeitsplan und eine Bestandsaufnahme. Die allerdings dürfte alles übertreffen, was in der Macht einer zivilen Kreisverwaltung steht, auch der von Pinneberg, das am Rande der neuen atomaren Todeszonen liegt. Text: „Evakuierung der Außenzone für KKW–Brokdorf. Bei besonders schweren kerntechnischen Unfällen kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch über den 10 km Bereich hinaus Evakuierungen erforderlich werden, für deren Durchführung längere Zeit zur Verfügung steht.“ Die so eben bekannt gewordene TÜV– Studie für Siedewasserreaktoren (Brunsbüttel) rechnet im schlimmsten Kernschmelz–Fall mit einer Vorwarnzeit von ganzen drei Stunden. Nach Erkenntnissen des Darmstädter Öko–Institutes ist diese Frist für Druckwasserreaktoren wie Brokdorf nicht wesentlich länger. „Hierfür“, so fährt die Dienstanweisung mit einem gewissen Realismus fort, „hierfür sind keine planmäßigen Vorbereitungen erforderlich“. In der Tat: Allein im Landkreis Pinneberg müßte die Bevölkerung einer mittleren Stadt in Sicherheit gebracht werden. „50.900 Einwohner“ vermerkt das gelbe Ordnerblatt. Eine Viertelmillion Einwohner des dünn besiedelten Kreises in den Marschlanden westlich vor der Millionenstadt Hamburg müßten evakuiert werden, käme es zur Kernschmelze in Stade. Denn auch Brokdorf liegt für Pinneberg noch weitab, Stade am anderen Elbufer ist der typischere Ernstfall für den Landrat, der von amtswegen auch oberster Katastrophenschützer seines Kreises ist. Er wird binnen Stunden Herr über Tod und Leben, wird Straßensperren anordnen, Auffanglager, Sammelstellen einrichten, an denen Ärzte unter seiner Zuständigkeit die hoffnungslosen Strahlenopfer aussortieren werden. Niemand wird den auf Kreisgebiet eigenen Abschnitt der Katastrophengebiete verlassen können, der Landrat von Pinneberg ist verpflichtet - ebenso seine Kollegen von Steinburg, Stade oder Biblis - die Bundeswehr zu Hilfe zurufen. Auch das wird vorschriftsgemäß geschehen. Die Hilfe der Truppen sei schriftlich und „fernmündlich voraus“ zu erbitten, so schreibt die Anlage 6 weiter vor, und dem Schreiben sei „unbedingt“ anzufügen: „Zivile Einrichtungen und Organisationen stehen nicht in ausreichender Stärke zur Verfügung.“ Nach Meinung des Darmstädter Öko– Instituts kann es in den nächsten 25 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 4 zu 100 in einem westdeutschen Reaktor zur Kernschmelze kommen, dem Tschernobyl–Fall also. Sei es in Stade. Wie in der Sowjetunion werden die Techniker bis zuletzt versuchen, ihren Reaktor unter Kontrolle zu bringen. Irgendwann wird einer mehr aus Panik denn aus Verantwortungsgefühl zum Hörer greifen. Der Dienstplan wird in Gang gesetzt, der Anruf wird auch den Pinneberger Landrat erreichen, bei Dienstzeiten unter Nummer 04101/212–394 im Raum 120 a des Kreisgebäudes zu Pinneberg wird man sich zunächst auf die Daten der Betriebsmannschaft in Stade verlassen müssen. Wird ihrer Meinung nach Radioaktivität nicht über die Schwelle von 50 Millirem Edelgas pro Stunde oder 1,5 rem Jod ansteigen, bleibt es beim sogenannten Kastrophen–Voralarm. Der Stab wird einberufen, alle Dienste werden in Bereitschaft versetzt, nur die Bevölkerung wird nichts davon merken. Jedenfalls nicht jetzt, später schon: Der Schwellenwert von 1,5 rem Joddosis bedeutet nach heutigen Erkenntnissen, daß jedes zweitausendste Kind an Schilddrüsenkrebs erkranken wird. Dennoch steht in der Verschlußssache auf Seite 9: „Grundsätzlich ist die Unterrichtung der Bevölkerung nicht erforderlich.“ Gründe für diese - lebensläng liche - Informationssperre sind leicht aus den für den vollen Atomalarm vorgesehenen Maßnahmen zu erschließen. Wieder werden Meßtrupps ausgeschickt, diesmal auch solche des Kreises, im Raum 120 werden Windrichtungen und Ausbreitungstendenzen der radioaktiven Wolke abgeschätzt und sehr bald wird der Landrat - er heißt jetzt nur noch „KAL“ für „Katastrophenabwehrleiter““ - eine erste Entscheidung fällen, die das Schicksal der Strahlenopfer besiegelt. Text Sonderplan: „Falls erforderlich erklärt der KAL das betroffene oder unmittelbar gefährdete Gebiet zum Sperrgebiet.“ Näheres ist der Anlage 29 zu entnehmen, auf die an dieser Stelle weiterverwiesen wird: „Ersatzverkündung durch Rundfunk/ Fernsehen. Der Landrat des Kreises Pinneberg gibt bekannt: Ab sofort ist das Gebiet ... zum Sperrgebiet erklärt. Es ist verboten, dieses Gebiet zu betreten, zu befahren oder zu verlassen.“ Wenn diese Durchsage über den Äther geht, werden im Kreis Pinneberg 12 Sammelstellen auf Weisung des Landrats besetzt sein, der Nachbarkreis Segeberg wird an der Kreisgrenze sieben Notlager für 2.000 Personen vorbereitet haben. In der 10–Kilometer–Zone von Stade leben jedoch auf Pinneberger Kreisboden 10.860 Menschen. Sie werden fliehen, obwohl sie eine andere nach Plan vorgesehene Rundfunk–Durchsage aufgefordert hat, zu Hause zu bleiben. Weit werden sie nicht kommen. Text–Anlage 19, „Evakuierungsplan, Seite 10: „Als Ausweichrichtung gefährdeter Bevölkerungsteile des Kreises Pinneberg wird die Richtung Ost bis Nordost angenommen, so daß geordnete Kolonnen oder Einzelfahrzeuge die B 4 auf der Strecke Quickborn - Bad Bramstedt anfahren müssen. Die B 4 wird in dem genannten Streckenabschnitt zur „Auffanglinie“ erklärt.“ Niemand wird dieser Bundesstraße entkommen. An neun Stellen sind sogenannte „Lenkungspunkte“ aufgebaut, fünf Abzweigungen sind von vornherein abgesperrt. Beides zusammen „bewirkt“, so der Text weiter, „daß die erwartete Bevölkerung vor dem Eintreffen in den Auffangorten zwangsläufig die „Registrierungspunkte mit Quartierzuweisung anlaufen muß.“ Davon gibt es fünf, die eingesammelten Flüchtlinge werden in die Notlager oder in die Hallenbäder der Kreisgemeinden verfrachtet. Dort sind Dekontaminationsstationen eingerichtet, vier davon sind von Anfang an mit Bundeswehreinheiten besetzt. Doch die Armee wird bereits weiter an die Katastrophenfront vorgerückt sein, der Unterabschnitt „Straßenverkehr“ des Kapitel „Abwehrmaßnahmen der Stufe 2“ legt fest: „Die Maßnahmen der Polizei werden gegebenenfalls auf entsprechende Anforderung beim KAL durch Bundeswehr unterstützt.“ Hier wie auch in den umfunktionierten Hallenbädern endet die Macht des Landrats. „Dekontamination“ ist bei der Radioaktivität, die den Evakuierungsplan auslöst, nur ein anderes Wort für Selektion. Zwar enthält der Sonderplan auch Waschvorschriften, sie helfen jedoch nur in wenigen Fällen. Und genau die müssen ausgesucht werden. Die Katastrophenärzte, die hier im Einsatz sind, haben alle Kurse in Triage besucht. Den Opfern werden Armbänder in drei verschiedenen Farben angelegt. Die einen bekommen Antibiotika, die anderen werden in Spezialkliniken geschickt, die Letzten dürfen einfach wieder nach Hause gehen.