Entspannung von Unten ist längst nicht Alles

■ Auf einem Kongreß in Köln traten die Grünen „Für ein anderes Europa“ ein / Osteuropäische Oppositionelle treiben diese Diskussion voran / Zdenek Mlynar, Mitbegründer der Charta 77 ist Politikwissenschaftler in Österreich und war während des Prager Frühlings 1968 ZK–Sekretär der KP / Walter Süß sprach mit ihm

taz: Herr Mlynar, dieser Kongreß handelte von „Europa“. Ist „Europa“ für den einen Inbegriff kulturellen Reichtums, humanistischer Tradition, so sehen andere es als die Wurzel all jener Übel, von denen die Welt heute geplagt wird. Was verbinden Sie, als Tschechowslowake, mit „Europa“? Zdenek Mlynar: Ich meine, daß in der europäischen Geschichte sowohl die Hoffnung wie die Übel verwurzelt sind. Es ist eine widersprüchliche Entwicklung, die Europa hinter sich hat. Heute geht es meiner Meinung nach unter dem Titel „anderes Europa“ vor allem darum, ob wir uns in Europa etwas anderes vorstellen können als die Blockaufteilung. Ob es eine Zukunft für Europa gibt, die das Gemeinsame aus der Geschichte wieder zusammenbringt und die Teilung in zwei Blöcke überbrücken kann. (...) Aus der Sicht eines Tschechen, der fast sein ganzes Leben lang im heutigen, sowjetisierten Mitteleuropa gelebt hat, ist es so, daß die Zugehörigkeit dieser Länder zu Europa mehr Autonomie für diese Völker bedeuten muß, mehr Demokratie, weniger Unterordnung und Abhängigkeit von der Sowjetunion. „Anderes Europa“ müßte bedeuten, daß es künftig nicht mehr möglich ist, alle Versuche, in diesen Ländern etwas anderes zu entwickeln als ein sowjetartiges System, durch Unterdrückung mit Militärs oder sowjetischer Intervention beendet werden. Gerade von Menschen aus der tschechoslowakischen Emigration ist ja die Diskussion über Mitteleuropa vorangetrieben worden... Von Milan Kundera ..und Kundera hat in dieser Diskussion die Position vertreten, daß Rußland nicht zu Europa gehört. Gestern aber, bei der Podiumsdiskussion, hat Lev Kopelew sehr engagiert argumentiert, daß Rußland Teil Europas ist. Wenn Sie jetzt den Europa–Begriff verwenden, gehört Rußland dazu oder nicht? Rußland gehört sicher zu Europa, da kann es keinen Zweifel geben. In jedem Fall ist die russische Kultur ein Teil der europä ischen Kultur, aber es geht darum, daß die Sowjetunion nicht nur europäisches Rußland darstellt, sondern auch eine der beiden Supermächte und man kann nicht einfach behaupten, die Sowjetunion als Supermacht gehört zu Europa und die Vereinigten Staaten sind außerhalb. Es ist politisch schwieriger, aber ich bin nicht der Meinung, daß man Rußland aus Europa ausschließen kann, das geht nicht. Ein zentrales Thema dieses Kongresses ist die Kritik an der sozialdemokratischen Entspannungspolitik, der vorgeworfen wird, allzu sehr auf die Ebene von Staaten und Regierungen fixiert zu sein. Dagegen wird „Entspannungspolitik von unten“ - sei es als Ergänzung oder als Alternative - gesetzt. Können Sie mit diesem Begriff überhaupt etwas anfangen? Als Ergänzung der Bemühungen von oben, der Regierungen, kann ich etwas damit anfangen. Als Ergänzung kann man sich vorstellen, daß auch von unten, zwischen den Gesellschaften, zwischen den verschiedenen Initiativen, sozialen Gruppen usw. Beziehungen über die Blockgrenze hinaus existieren könnten und daß sich die Gesellschaften gegenseitig besser kennenlernen. Ich bin aber auf jeden Fall nicht der Ansicht, man könne mit der Losung „Entspannung von unten“ alles begraben, was die zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft. Sehen Sie in den letzten Jahren irgendwelche Ansatzpunkte für eine Veränderung der Beziehun gen zwischen West– und Osteuropa, für ihre Entmilitarisierung? Daß darüber gesprochen wird in der letzten Zeit ist auch ein Wert. Es sind noch keine Änderungen der Tatsachen, aber es ist auch nicht etwas, was gleich Null ist. Vor allem im Zusammenhang mit dem Führungswechsel in der Sowjetunion, mit Gorbatschow, sehe ich da Ansätze, z.B. daß die sowjetische Führung versucht, eine neue Konzeption auszuarbeiten. Diese Konzeption besagt, daß es im nuklearen Zeitalter unmöglich ist, Sicherheit militärisch zu gewährleisten, man müsse etwas anderes versuchen: politische Beziehungen, gegenseitige Sicherheit, das, was in Deutschland von der SPD als „Sicherheitspartnerschaft“ bezeichnet wird. Das sind bisher sicher erst nur Überlegungen und ideologische Konzeptio nen, auf beiden Seiten, aber ich glaube, es ist im Vergleich mit der Vergangenheit doch etwas Neues und sollte ernst gemeint sein - und das sind ernste Bemühungen von Seiten der Sowjetunion - könnte das eine neue Wirklichkeit für Europa bedeuten. Welche Konsequenzen hätte das für die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten? Das ist schwer vorauszusagen, das hängt nicht nur mit der sowjetischen Europapolitik zusammen. Nach vierzig Jahren der sowjetischen Hegemonie hat sich schon vieles geändert. Eine Entmilitarisierung in Europa müßte dazu führen, daß die mitteleuropäischen Staaten des Sowjetblocks langfristig für die eigene Entwicklung mehr Spielraum bekommen und somit eine Entwicklung im Einklang mit der eigenen Tradition sich doch noch durchsetzen könnte. Aber das sind bisher nur Hypothesen, die noch keine Begründung in der sowjetischen Konzeption haben. Ein zentrales Element dieser Rückbesinnung auf die eigene Tradition wäre, wie Sie an anderer Stelle sagten, die Entfaltung von mehr gesellschaftlicher Autonomie. Lassen sich dafür in der heutigen Sowjetunion Ansatzpunkte finden? Es ist beides, denn in der Sowjetunion sieht das Streben nach Autonomie anders aus als in der Tschechoslowakei. In der Tschechoslowakei gibt es, wenn es darum geht, ein neues Modell zu entwickeln, starke Tendenzen, ein parlamentarisches System westlicher Prägung einzurichten, denn es gibt Erfahrungen damit. In der Sowjetunion könnte es aber ganz anders aussehen. Was gemeinsam ist, daß ist die Tatsache, daß die beherrschten sozialen Subjekte, die verschiedenen sozialen Gruppen, der einzelne als Subjekt, mehr Raum und mehr Möglichkeit für autonomes Verhalten erhalten als sie es bisher in einem sowjetartigen System gehabt haben. Dabei ist die Abschottung von Informationen ein ganz besonderes Problem. Man muß ja, um wirklich entscheiden zu können, für welche Alternative man ist, bestimmte Informationen haben. Und das beginnt schon in der Wirtschaft, in den sowjetischen Betrieben. Was das, was Gorbatschow macht, wirklich bedeutet, werden wir sehen, wenn das Gesetz über den sozialistischen Betrieb Anfang 1987 zur Diskussion vorgelegt wird. Aber es muß mehr Autonomie geben, wenn die Entwicklung tatsächlich zu einem intensiven Wachstum führen soll. Das wäre aber erst ein Anfang,. der von einer Autonomie im sozialen und im politischen Bereich weit entfernt ist. Um die Bürokratie in ihrer heutigen Form zu stürzen, braucht Gorbatschow jedoch zuerst die „glasnost“, die Öffentlichkeit, die Publizität. Das ist zwar noch keine Meinungsfreiheit, aber schon ein Schritt in diese Richtung. (...)