I N T E R V I E W „Man soll Bewegungen nicht vergleichen“

■ Daniel Cohn–Bendit, fast schon ein Mythos der 68er–Bewegung, zur Studentenrevolte von 86

taz: Hast du die Revolte erwartet? Daniel Cohn–Bendit: Die Diskussion, warum es in Frankreich so ruhig war, gibt es seit langem. Ich habe immer gesagt, daß man nicht unbedingt von der Oberfläche die Schlüsse ziehen muß. Ziehst du Parallelen von 68 zu den heutigen Ereignissen? Man soll die Bewegungen nicht vergleichen. Wichtig ist, daß die Bewegung sich anders definiert als vor zwanzig Jahren. Sie definiert sich unideologisch. Sie wollen sich nicht wie wir vor zwanzig Jahren als sozialrevolutionäre Bewegung verstehen. Aber es ist eine moralische Bewegung, die einen Inhalte formuliert, von dem man glaubte, er sei in Frankreich verlorengegangen. Der Inhalt der Gleichheit. In Frankreich, so hatte man geglaubt, seien mit dem Sieg der Rechten, mit dem Kreuzzug des Liberalismus solche alten Werte der traditionellen Linken vom Erdboden verschwunden. Es hat sich gezeigt, daß das nicht stimmt. Trotzdem gibt es Parallelen: die Spontaneität der Bewegung, ihre schnelle Radikalisierung zum Beispiel. Der Vergleich mit 68 hat in Frankreich eine bestimmte politische Funktion. Er soll Niederlagenbewußtsein prägen. Ich meine nicht, daß 68 eine Niederlage war; ich meine, daß im Bewußtsein französischer Medien und in der heutigen französischen Ideologiedebatte 68 mit einer Niederlage gleichgesetzt wird. Deswegen ist für die Bewegung der Bruch mit 68 wichtig. Trotzdem werden sich für die Bewegung ähnliche Probleme stellen. Wenn ihr unmittelbares Ziel, der Stopp der Unireform, nicht erreicht wird, was passiert dann mit den Gefühlen, den Bedürfnissen, die in dieser Bewegung entwickelt wurden? Die Frage lautet also: Wird sie den Übergang von einer Hochschulrevolte zu einer gesellschaftlichen Revolte schaffen? Kann man die Revolte mit Entwicklungen in der Bundesrepublik vergleichen? In der Bundesrepublik hat es eine Kontinuität von Bewegung und Auseinandersetzung gegeben, die in Frankreich nicht lief. Hier spielt die ganze ökologische Bewegung keine Rolle. Auf der anderen Seite sind die Brüche, die stattfinden, strukturell ähnlich. Ähnliche Werte werden ganz anders ausgedrückt. Der Bruch, den die französischen Studenten gemacht haben, äußert sich darin, daß es jetzt eine neue Generation gibt, die unbelastet von den traditionellen Rechts–Links Auseinandersetzungen auf die Straße geht. Wie wird es weitergehen? Das ist in Frankreich sehr kompliziert. Eine Revolte kann aufflackern, und du weißt nicht, ob sie zwei Wochen später wieder verschwunden ist. Interview: Georg Blume