Die Eskalation einer Revolte

■ Der Tod eines Studenten brachte die französische Regierung in eine Krise / Aus Paris Georg Blume

Plötzlich gab es das erste Todesopfer. Am Freitag noch waren die Spruchbänder der Demonstranten im Quartier Latin weiß, aus „Empörung über die Gewalt“, am Samstag sind sie schwarz. 50.000 Menschen zogen im Schweigemarsch durch Paris. Nicht mehr nur die Jugend, auch ältere Leute waren auf der Straße. Ein Trauerband überspannt den Boulevard Saint–Michel. Vereinzelte Sprechchöre verstummten rasch in der Stille. „Sie haben unser Fest ermordet,“ stand es auf dem Rücken eines Studenten. Der 22jährige Student der Pariser Dauphine–Universität, Malik Oussekine, Franzose ausländischer Abstammung, starb am frühen Samstag zwischen 1.30 und 2.00 Uhr. Die Demonstrationen vom Freitag nachmittag hatten sich bis in die Nacht hinein fortgesetzt. Kurz vor Mitternacht räumte die Polizei den Versammlungsplatz vor der Sorbonne und setzte den Demonstranten bis in die Seitenstraßen nach. Dabei kam die berüchtigte Motorrad–Spezialbrigade der Pariser Polizei zum Einsatz. Sie wurde direkt nach den Unruhen im Mai 68 aufgestellt: zwei Polizisten auf einem Crossrad, der Hintermann mit einem langen Schlagstock ausgerüstet. Schläge und Fußtritte Paul Bauzeloin, Beamter im Finanzministerium, war Augenzeuge des tödlichen Überfalls. Er sagte aus, daß er versucht habe, Malik Oussekine in einen Hauseingang der Rue Monsieur–le– Prince zu retten. Er schloß die Haustür zu spät. Zwei Polizisten hatten inzwischen ihr Crossrad stehengelassen, drangen in den Hausflur ein und schlugen zu. Der Demonstrant wurde auf die Straße gezerrt und erlitt nach weiteren Zeugenaussagen von Anwohnern erneut Schläge und Fußtritte. Die Sanitäter, die eine Stunde später eintrafen, versuchten Malik Oussekine unter den Augen der Fernsehkameras wiederzubeleben. Malik Oussekine starb während des Transports ins Krankenhaus an den Folgen eines Herzanfalls. Am Samstag morgen bestritt niemand die Art und Weise, wie Malik Oussekine ums Leben kam. Die Polizeipräfektur kündigte die augenblickliche Aufnahme eines polizeiinternen Untersuchungsverfahrens an. Paul Bauzeloin und andere Augenzeugen sprachen im Fernsehen. Bauzeloin: „Ich dachte, ich wäre in Chile.“ Philippe Dariulat, Vorsitzender des Studentenverbands UNEF–ID und Harlem Desir, Vorsitzender der Antirassismusorganisation „sos–racisme“, forderten Innenminister Charles Pasqua auf, sie zu empfangen. Dariulat sprach von einer „dramatischen Wende“ der Geschehnisse. Für die „Nationale Koordination“ der französischen Studenten äußerte sich David Assouline: „Man hat einen Jugendlichen massakriert. Sie sind verrückt geworden. Jetzt wird sich unsere Aufmerksamkeit auf diesen Tod richten.“ Die „Nationale Koordination“ rief zu einem spontanen Schweigemarsch durch Paris auf. „Ein Toter reicht“ Erst auf dem Place dItalie wurde das Schweigen des Marsches gebrochen. Kaum fünfzig Meter von diesem Platz entfernt steht das Polizeigebäude des 13. Pariser Stadtbezirks. Die Polizei, die sich während des Nachmittages auffällig zurückgehalten hatte, bewachte das Gebäude. Der Demonstrationszug geriet in Bewegung. Schnell flogen die ersten Steine. Neben mir unterhielten sich zwei Oberschüler: „Ein Toter reicht. Die Rache nützt gar nichts.“ - „Halts Maul, glaubst du, demonstrieren reicht.“ - „Nein, aber das hier ändert auch nichts.“ Der Place dItalie war bald grau in Tränengas gehüllt. Im Cafe suchte man Schutz, doch die Fensterscheiben zerbrachen unter dem Ansturm der Leute. „Das ist doch nicht mehr menschlich,“ meinte der Kellner. „Das Kind dort in der Ecke wird nicht mehr atmen können.“ Nachdem der Demonstrationszug schließlich den Place dItalie verlassen hatte, wechselte die Stimmung. Die Sprechchöre wurden nun wütender. Das neue Universitätsgesetz, um das es der Bewegung bisher ging, schien vergessen. „Nein zu dieser Regierung, die die Ausländer abschiebt und die Studenten erschießt,“ sangen die Demonstranten, und von einer Idee zur nächsten radikalisierten sich die Gesänge. „Befreit Mandela, wir schicken euch Pasqua.“ Ein älteres Ehepaar äußerte sich begeistert: „Wenn Malik beerdigt wird, gehe ich nicht zur Arbeit,“ sagte die Frau. Und der Mann schwärmte: „Die Art und Weise, wie die Menge die Politik wiederentdeckt, ist fantastisch.“ Auch ein alter Schlachtruf von 68 wurde wieder wach: „Arbeiter, Studenten - Solidarität.“ Kampfbereit Nichts anderes forderte am Samstag abend die „Nationale Koordination“ der Studenten, die bis spät in die Nacht hinein tagte, während draußen, nun vor dem Rathaus, der Residenz von Premierminister Jacques Chirac, weitere Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten tobten. Christine, 21 Jahre, von Paris–Tolbiac, führte den Vorsitz der Koordination und faßte kurz zusammen: „Die eine Million Demonstranten am Donnerstag waren ein irrer Erfolg. Doch die Regierung hat uns mißachtet. Sie schickte die Polizei in die Konfrontation. Sie trägt die volle Verantwortung für den Tod Maliks. Erziehungsminister Monory hat im Fernsehen gesagt, daß er uns sein Herz öffnen wolle, zur gleichen Zeit als die Polizei mordete. So hat uns die Regierung ihr Herz geöffnet. Unsere Perspektive heißt nun, der Repression zu widerstehen, und die Diskussion auf die gesamte französische Bevölkerung auszuweiten.“ Christine wurde an diesem Abend nicht widersprochen. Die Delegierten gaben sich kampfbereit. Sie berichteten von den Vollversammlungen am Freitag, die so voll waren, wie nie zuvor. Die „Nationale Koordination“ beschloß um Mitternacht einen Trauertag an allen Universitäten und forderte die Oberschüler auf, ein Gleiches zu tun. Für Mittwoch rief sie zu einem Generalstreik der gesamten Bevölkerung auf.