Theatergewerkschaft in der UdSSR gegründet

■ Bei Gründung der „Union der Theaterschaffenden der Sowjetunion“ wurde offen über bürokratische Eingriffe in künstlerische Arbeit geklagt / TASS stellt neue Gewerkschaft vor / Gorbatschow hofft auf Impulse für sowjetischen „Prozeß der Umgestaltung“

Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - Mehr als 164 Anmerkungen habe eine Komission des Kulturministeriums seinem Stück verpaßt und zu guter Letzt auch noch den Namen geändert, beklagte sich der Regisseur Towstonogow. „Damit muß unsere Union ein für allemal aufräumen,“ rief er am Samstag den über 800 Delegierten aus der gesamten UdSSR zu, die sich zum Grün dungskongreß der neuen Gewerkschaft der „Union der Theaterschaffenden“ zusammengefunden hatten. Ein weiterer Redner kritisierte, daß Kunst nicht an künstlerischen, sondern allein an inhaltlichen Maßstäben gemessen werde. Daran sei das „gesamte System (schuld), das einer grundlegenden Umgestaltung bedarf“. „Die weitere Demokratisierung des kreativen Prozesses und die Verbesserung der Theaterarbeit in die Wege zu leiten“ sei das Anliegen der neuen Organisation, stellte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die Gewerkschaft ihren Lesern vor. Das Theaterleben habe seit Ende der sechziger Jahre durch „kleinliche Beleh rung“ gelitten. Viele sowjetische Bühnenschriftsteller hätten das reale Leben und seinen Konflikte zeigen wollen, doch habe ihnen bürokratische Betulichkeit wenig Chancen gelassen, sagte der Vorsitzende der Vereinigung, der Schauspieler Virill Lawrow. „Unsere kreative Gewerkschaft wird in der Absicht gegründet zu verhindern, daß dies jemals wieder geschieht, und um sicherzustellen, daß das Schicksal von Bühnenstücken im Theater von Theaterleuten entschieden wird und daß Beschlüsse kompetent, öffentlich und demokratisch gefaßt werden“, erklärte Lawrow. Dem wollte auch der im August eingesetzte Kulturminister, Wassilij Sacharow, nicht widersprechen. Sein Ministerium wolle „auf allen Stufen der bevorstehenden Arbeit in der neuen Vereinigung einen aktiven und gleichberechtigten Partner sehen“. Einiges davon soll schon jetzt verwirklicht werden. So werden in einem ersten Schritt künftig über 70 Theater in der UdSSR selbständig über Repertoire und Finanzierung entscheiden können. Und die heftigen Diskussio nen auf dem Kongreß lassen darauf hoffen, daß die Lebendigkeit des künstlerischen Schaffens auch auf andere Bereiche ausstrahlt. „Zwischen den Menschen, die diese Veränderungen anstreben, und der politischen Führung gibt es den ministeriellen und den Parteiapparat, die keine Veränderungen wollen“, sagte kein Geringerer als Michail Gorbatschow bei einem informellen Treffen mit 30 Schriftstellern im Juni dieses Jahres. Gorbatschow sah nach Berichten über dieses Treffen ganz klar die Schwierigkeit, daß die Bürokratie langsam von passivem Widerstand gegen die Neuerungen zur Sabotage übergegangen ist. Der Prozeß der Umgestaltung, so Gorbatschow, sei in der Sowjetunion noch schwieriger, weil es keine zugelassene Opposition gebe. „Glasnost“, Offenheit, müsse diese Lücke füllen. Mit Kritik und Selbstkritik müßte man vorwärtskommen, ohne allerdings alle Schranken aufzugeben, denn dies wäre „Anarchie“ (seufz). Den Schriftstellern und Künstlern käme dabei eine besondere Bedeutung zu. „Das Zentralkomitee braucht ihre Hilfe, Sie können sich nicht vorstellen, wie nötig wir Ihre Hilfe brauchen.“ Und er zeigte sich befriedigt, daß die Filmer auf ihrem fünften Kongreß im Mai 1986 eine neue Führung wählten, die durch ihren Kampf gegen die Zensur von sich reden macht. Daß diese Politik nun auch in andere Bereiche ausstrahlt, zeigt die Diskussion um eine Wahlrechtsreform in den sowjetischen Zeitungen. Nach Informationen des Kölner Stadt– Anzeiger ertönt in Leserbriefen und Kommentaren der sowjetischen Presse der Ruf nach echten Wahlen mit mehreren Kandidaten, die von „unten“ aufgestellt werden sollen. Vorerst allerdings blieben diese Forderungen auf die Wahlen bei politischen Organisationen wie die die Partei, die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften beschränkt. Doch schon käme auch die Wahl von Betriebsleitungen ins Gespräch. Kommentar auf Seite 4