Gefangene befreien

■ Gorbatschow setzt auf die Intellektuellen

Der Zar selbst sei machtlos gegenüber der Bürokratie, schrieb John Stuart Mill 1859. Er könne zwar einzelne Bürokraten nach Sibirien schicken, doch dazu brauche er wiederum die Bürokratie. Genauso geht es Gorbatschow heute. Die Bürokratie ist die konservativste Kraft im Lande. Ihr Beharrungsvermögen und das Klammern an den mageren Privilegien einer Mangelgesellschaft behindern jede Veränderung. Erst die Einsicht der Militärs und der Führung, in diesem System im Wettbewerb mit dem Westen immer weiter ins Hintertreffen zu geraten, machte den Aufstieg Gorbatschows möglich. Dessen anfänglich auf die Bekämpfung von Korruption und Alkoholismus begründete Populismus reichte nicht aus, etwas zu bewegen. Mit der Entscheidung, Strukturen zu verändern, in Teilbereichen Kritik und Offenheit zu wagen ist nun ein Weg beschritten, der der Reform von oben das Fundament geben soll. Vorerst sind es die Intellektuellen, die mehr Spielraum haben sollen. Wer das Land modernisieren will, braucht kritikfreudige, informierte und zu Eigeninitiative fähige Menschen. Und gerade die wurden bisher immer unterdrückt. Kein Wunder also, daß die neue Offenheit nur zögernd angenommen wird. Von Gorbatschow nun zu erwarten, er könne mit einem Streich alle gesellschaftlichen Konflikte des Systems lösen, wäre nicht angemessen. Doch würde die Glaubwürdigkeit des neuen Kurses nur erhöht, wenn alle politischen und sozialen Gefangenen befreit und Rechtssicherheit hergestellt würde. Rechtssicherheit besonders für jene, die vor Jahren forderten, was heute selbstverständlich sein soll. Erst dann wird das Zutrauen in den neuen Kurs wachsen. Genau das braucht Gorbatschow gegen die Bürokratie. Erich Rathfelder