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Chirac macht Rückzieher - Studentenstreik erfolgreich

■ Französische Regierung nimmt Hochschulreform zurück / Jubel der Studenten von Trauer um den Tod von Malik Oussekine überschattet / Generalstreik nach Absage von Gewerkschaften fraglich

Aus Paris Georg Blume 2.000 Studenten in der Pariser Sorbonneuniversität jubeln. Champagnerkorken platzen und ein Sprechchor erfüllt den Saal: „Wir haben gewonnen“. Am Montag um 13 Uhr war es soweit. Nach einer zweiten Krisensitzung im Kreise seiner Minister kündigt Regierungschef Jacques Chirac die Rücknahme der Gesetzesvorlage an, die die Universitäten reformieren sollte. „Eine Anpassung der Universität, so nötig sie sein mag, kann ohne die breite Zustimmung der Betroffenen, vor allem der Studenten und Lehrer nicht erfolgreich sein. Sie kann nur, das versteht sich von selbst, in Ruhe geschehen“, begründet der Premierminister seine Entscheidung. Nach der Rücknahme von drei Artikeln des umstrittenen Gesetzes am Freitag erfüllt Jacques Chirac jetzt die zentrale Forderung der Schüler– und Studentenbewegung. Er schloß sich damit einer Empfehlung von Staatspräsident Mitterrand an. Dennoch legt sich die anfängliche Freude unter den Studenten schnell. „Heute ist ein Trauertag,“ mahnt ein Student in der Vollversammlung der Sorbonne. Am späten Nachmittag besetzen annähernd 50.000 Schüler und Studenten die Pariser Bastille, um ihre Entrüstung über den Tod des Demonstranten Malik Oussekine, den Polizisten am Freitag ermordeten, zu bekunden. Keine Banderolen und keine Sprechchöre - Siegesstimmung will auf der Bastille nicht aufkommen. Gleichzeitig kündigte die „Nationale Koordination“ der Studenten an, daß sie am Aufruf zum Generalstreik für Mittwoch festhalte. „Wir widmen diesen Tag Malik Oussekine,“ sagte ihr Sprecher, Assouline. Im selben Zuge sagte die französische linksgerichtete Lehrergewerkschaft FEN, die sich schon am Sonntag dem Aufruf der Studenten anschloß, ihre Teilnahme am Generalstreik wieder ab. Eine solche Entscheidung ist auch von der größten französischen Gewerkschaft, der kommunistischen CGT zu erwarten. Sie hatte sich am Sonntag ebenfalls dem Generalstreik angeschlossen. Inzwischen hat der Generalsekretär der französischen KP, Georges Marchais, das Verhandlungsangebot der Regierung an alle beteiligten Parteien und Gruppen über eine neue Universitätsreform angenommen. Fortsetzung auf Seite 6 Kommentar Seite 4 Am Montag waren die französischen Gewerkschaften von der kommunistischen CGT bis zur konservativen „Force Ouvriere“ dem Aufruf der „Nationalen Koordination“ der französischen Studenten gefolgt, nach dem Tod von Malik Oussekine einen nationalen Trauertag zu begehen. Zwischen elf Uhr und mittags unterbrachen Arbeiter und Angestellte in zahlreichen Betrieben die Produktion, so unter anderem in den Minen Nordfrankreichs, bei Renault und den staatlichen Elektrizitätswerken. Am Pariser Flughafen Roissy wurde der Flugverkehr für eine halbe Stunde unterbrochen. Die Angestellten des Erziehungsministeriums protestierten im Hof des Ministeriumsgebäudes. Schüler und Studenten versammelten sich in vielen Städten zu Schweigemärschen. In Metz und Straßburg teilten die Studenten Flugblätter vor den Fabriktoren aus. Nach der Entscheidung Chiracs sollten die Vollversammlungen an Gymnasien und Universitäten am Abend über die Fortsetzung der Protestaktionen beraten. Die Pariser Börse reagierte am Montag morgen empfindlich auf die Ereignisse am Wochenende. Die französischen Kurse fielen, und der Franc sackte gegenüber der Mark auf den historischen Tiefststand von 3,29 FF pro Mark.

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