: Zwischen Siegesstimmung und Ratlosigkeit
■ Nach dem Fall der Hochschulgesetzgebung versammelten sich die Pariser Studenten in der Sorbonne / Noch keine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll / Schock über den Tod ihres Kommolitonen Malik Oussekine hält an
Aus Paris Thomas Schmid
Drei Tage nach dem Tod des Studenten Malik Oussekine sorgen vor dem Portal der Sorbonne ausgerechnet Polizisten dafür, daß zur Vollversammlung nur eingelassen wird, wer sich als eingeschriebener Student ausweisen kann. Doch anstößig findet das offensichtlich niemand. Am Montag morgen noch stand die Uni jedermann offen, am Abend werden auch Journalisten nicht mehr eingelassen. Den Grund erfahre ich, nachdem ich die Flics am Nebeneingang überredet habe, mich ins Verwaltungsgebäude durchzulassen, von „Madame le recteur“ (eine weibliche Berufsbezeichnung kennt die französische Sprache nicht) höchstpersönlich: „Die Studenten wollen unter sich sein.“ - „Ach ja, und deshalb haben sie um Polizeikontrollen gebeten?“ - Sie überhört die Frage mit freundlicher Souveränität und bittet eine Sekretärin, mich zur Versammlung zu begleiten, damit ich wenigstens ein paar Fotos schießen kann. Ich muß ihr hoch und heilig versprechen, mich gleich danach wieder in die Niederungen des außeruniversitären Paris zurückeskortieren zu lassen. Das „Amphitheatre Richelieu“, der altehrwürdige ovale Saal mit seinen steil ansteigenden Sitzreihen im Zentrum der Sorbonne, ist brechend voll. Siegesstimmung paart sich mit Ratlosigkeit. Wie soll es nun weitergehen, nachdem die Regierung vor wenigen Stunden mit der völligen Rücknahme des Gesetzes über die Universitätsreform der Bewegung den Wind aus den Segeln genommen hat? Einige trauen Chiracs Worten nicht, wittern eine Falle. Aber es steht außer Frage: Die Regierung hat kapituliert. Offensichtlich aus Angst, daß sich der für heute angesagte Generalstreik weit über die Studentenbewegung hinaus zu einer unkon trollierbaren sozialen Revolte auswachsen könnte. Die Forderung nach „totalem Generalstreik bis zur RÜcknahme des Gesetzes“, wie ein Plakat der trotzkistischen „Lutte Ouvriere“ verkündet, ist gegenstandslos geworden. Bis auf die kommunistische CGT werden wenige Stunden später sämtliche Gewerkschaften ihre bereits zugesagte Beteiligung am Generalstreik absagen. Die rettende Idee kommt von einer Gymnasiastin, die sich aus den oberen Rängen des „Amphitheatre Richelieu“ zu Wort meldet. „Ihr Studenten habt einen Sieg errungen - mit unserer Hilfe. Jetzt müßt ihr euch mit uns Gymnasiasten solidarisieren, damit das Monory–Gesetz vom Tisch kommt.“ Beifall. Daß Erziehungsminister Monory zur selben Zeit auch seine Vorlage zur Reform der Gymnasien zurückzieht, kann die Vollversammlung nicht wissen. Man atmet historische Luft in diesem Saal, wo weit oben ein steinerner Descartes streng zum Podium ganz unten im Halbrund hinunterschaut, und die Studenten sind sich der historischen Tage bewußt. Man redet mit Emphase, unterstreicht mit mahnendem Zeigefinger die Bedeutung seiner Worte. Fast möchte man sagen, es herrscht in dem schlecht beleuchteten Raum mit seinem gediegenen Interieur die Atmosphäre eines Republikanischen Klubs aus den Zeiten der Französischen Revolution. Doch fehlt wohl das Un gestüme jener Zeiten. Man läßt sich ausreden, hält die Redezeitbegrenzung ein, und wenn sich ein Redner aufgrund seiner schwachen Stimme nicht durchsetzen kann, geht ein „Sch–sch–sch“ durch die Reihen, bis die Stille wiederhergestellt ist. Die Argumente sind so vernünftig wie es diese Studentengeneration ist, die nicht gegen eine Gesellschaft ankämpfen will, sondern ihre eigene Integration einfordert. Eine Generation, die einen ur–republikanischen Wert wiederentdeckt hat, den man im postmodernen Frankreich mit seiner fossilen Linken verloren glaubte: Gleichheit. Integration und Gleichheit. Die Bewegung selbst hat beides vorgelebt. Sie ist - oder war - radikal basisdemokratisch, und die „Beurs“, die Franzosen maghrebinischer Abstammung, die während der Kampagnen von SOS–racisme noch als „separate“ Schicht gehandelt wurden, sitzen im „Amphitheatre Richelieu“ mitten unter den übrigen Studenten. Nur einmal kommt es zu Sprechchören an diesem Abend in der Sorbonne. Jemand schreit: „Pasqua!“ - „Pasqua! Pasqua! Pasqua“, hallt es aus tausend Kehlen zurück. „Pasqua, bitte um Verzeihung!“ hat jemand seine Forderung an den französischen Innenminister auf seine Jacke geschrieben, und ein anderer trägt ein Plakat um den Hals: „Unser Sieg schmeckt nach Blut.“ Der Tod von Malik Oussekine, Franzose algerischer Abstammung, hat diese so betont pazifistische Bewegung zutiefst geschockt. Zunächst hatte die Pariser Staatsanwaltschaft verlauten lassen, Malik sei aufgrund seines Nierenleidens an einem Herzversagen gestorben. Inzwischen sagen Gutachter, daß ein solcher Kausalzusammenhang auszuschließen sei. Ein anfänglich behaupteter künstlicher Darmausgang wurde bei der Leiche Maliks, der im übrigen viel Sport trieb, auch nicht gefunden. Nein, Malik ist nicht an seinem Nierenleiden, nicht an Herzversagen gestorben, er wurde totgeknüppelt. In der Rue Monsieur–le–Prince Nummer 20, am Ort des Geschehens, häufen sich die Blumen, Kränze vom Gymnasium Lamartin, von den Senatoren der Kommunistischen Partei, von Annette und vielen anderen. Und zwischen den Blumen und brennenden Kerzen Dutzende von Gedichten und Botschaften: „Malik, getötet im Namen der Demokratie“, „Wir werden Dich nicht vergessen“, und: „Wir kämpfen für unsere Ausbildung, um nicht Bullen werden zu müssen.“
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