Philippinen zwischen Anspruch und Wirklichkeit

■ Anläßlich des heutigen Tag der Menschenrechte ziehen die philippinischen Menschenrechtsorganisationen Bilanz / 43 Verschwundene und 240 Folterfälle seit Aquinos Revolution / Noch kein Militär vor Gericht belangt / Langsames Tempo der staatlichen Bürokratie

Aus Manila Nina Boschmann

Es ist der 1. Dezember dieses Jahres. In Manila Luneta–Park lodern Fackeln, Hunderte von Kerzen beleuchten die in den Abendhimmel ragende weiße Säule, das Mahnmal für über 300 Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Ein „Licht für die Helden“, für die Märtyrer des Marcos–Regimes, soll die Zeremonie sein und Anwälte, hochrangige Richter, ja sogar Minister sind gekommen, um ihre Sympathie mit der Initiative der „Martyrs“ (mothers and relatives against tyranny) zu bekunden. Doch die zuletzt auf die Säule geschriebenen Namen stammen aus Aquinos Amtszeit. Unter ihnen auch der vor wenigen Wochen ermordete Gewerkschaftsführer Rolando Olalia. Schon wenige Tage später sind die Lichter erloschen. Man habe das Mahnmal leider schon vor dem heutigen Internationalen Tag der Menschenrechte abbauen müssen, ist im Büro der „Mütter und Verwandten“ der „Martyrs“ zu erfahren. Warum? Man fürchtete militante Aktionen von Marcos–Loyalisten, und die neue Administration will Konfrontationen vermeiden. Dieser Vorgang enthüllt exemplarisch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der die philippinische Regierung fast zehn Monate nach Marcos Sturz gegenübersteht. Energisch und kompromißlos wie kaum ein anderes Staatsoberhaupt der dritten Welt versprach Corazon Aquino bei ihrem Amtsantritt im Februar ihrem Volk und der Welt die Einhaltung der Menschenrechte. Hunderte von politischen Gefangenen - darunter prominente Linke und Guerillaführer - wurden aus den Gefängnissen entlassen, repressive Dekrete aufgehoben und ein „Presidential Committee on Human Rights“ (PCHR) gegründet. Doch grundsätzlich habe sich die Situation im Land dennoch nicht geändert, klagen unisono die zahlreichen unabhängigen Menschenrechtsgruppen. Die staatliche Bürokratie arbeitet die Vergangenheit unendlich langsam auf, täglich kommen neue Fälle hinzu, und bis heute ist es nicht gelungen, auch nur einen der Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Und immer noch sitzen rund 300 unter Marcos inhaftierte Gefangene im Knast. Wie ist das möglich? Bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte Definition, was ein politischer Gefangener ist. Sind es nur die, die Marcos einfach jahrelang im Kerker schmoren und foltern ließ? Sind es jene, die wegen Rebellion überführt wurden? Oder gehören zu den „Politischen“ auch die Gefangenen, deren politisches Engagement bekannt war und die wegen irgendeines zivilen Vergehens (z.B. unerlaubten Waffenbe sitzes) zu langjährigen Strafen oder gar zum Tode verurteilt wurden? Dies ist die Ansicht der Gefangenenhilfsorganisation TFD, deren Vorsitzende Sister Mariani auch in der staatlichen Menschenrechtskommission sitzt. In einer ihrer letzten Publikationen stellt TFD zehn Fälle von noch nicht entlassenen „Politischen“ vor. Zwei Drittel von ihnen sind einfache Farmer aus entlegenen Provinzen, denen außer der Zugehörigkeit zu Bauernorganisationen nie etwas nachgewiesen wurde. Befehle, sie freizulassen, werden nicht befolgt. „Halbierte Repression“, so könnte auch der vor wenigen Tagen veröffentlichte Bericht der Menschenrechtsorganisation Pahra überschrieben werden. Dem Dokument zufolge sind zwischen dem 27. Februar und dem 30. September dieses Jahres 43 Philippinos spurlos verschwunden, 328 wurden nachweislich gefoltert, 188 wegen politischer Aktivitäten verhaftet und über 150 bei Massakern und Überfällen bewaffneter Gruppen ermordet: Zwar waren es im vergangenen Jahr noch mehr als doppelt so viel, doch die Umstände gleichen sich. Fast immer werden Zivilisten vom Militär oder paramilitärischen Gruppen drangsaliert, weil sie verdächtigt werden, der „New People Army Guerilla“ anzugehören oder sie zu unterstützen. Zyniker in den Menschenrechts organisationen meinen deshalb schon, das Militär ziehe es wohl vor, sie lieber gleich umzubringen, statt durch Verhaftungen in die Schlagzeilen zu kommen. An Augenzeugen mangelt es nicht. Die wohl grausigsten Berichte werden derzeit im „Child Rehabilitation Center“ (CRC) in Manilas Vorort Quezon gesammelt. Dort wird zum Beispiel der achtjährige Ramon Perez von der Zuckerinsel Negros behandelt, der am 25. Mai dieses Jahres die Ermordung seiner Eltern mitansah. Oder der 13jährige Nelson Fidel, dessen wirklicher Name nicht bekanntgegeben werden darf, weil die paramilitärische Truppe im heimatlichen Cagayan–Valley auf die ganze Familie eine shoot to kill–Order ausgestellt hat. Im Januar wurde sein Vater zerstückelt aufgefunden, im Februar wurde er selbst vom Militär aufgespürt und schwer gefoltert. Inzwischen mußte er erfahren, daß auch seine Mutter ermordet wurde. Eines der großen Rätsel in diesem traurigen Spektakel ist die Ineffizienz der mit bekannten und integren Persönlichkeiten besetzten staatlichen Menschenrechtskommission. Die PCHR gluckt zwar über den Akten von über 700 Fällen (davon etwa 120 Neuzugänge seit Februar), bisher ist jedoch kein einziger vor Gericht neu aufgerollt worden. Mylene Anastacio von „Martyrs“, deren Bruder unter Marcos ermordet wurde, ist enttäuscht: „Am Anfang haben wir sehr große Hoffnungen auf sie gesetzt. Aber inzwischen versuchen wir auch wieder allein, die Fälle unserer Angehörigen zu lösen.“ Während die ähnlich strukturierte Kommission, die dem versteckten Marcos–Vermögen nachspürt, über Hunderte von Mitarbeitern verfügt, arbeiten ganze vier Rechtsanwälte fest mit der PCHR zusammen. Alter und Ämterhäufung der Kommissionsmitglieder hindern sie daran, selbst in entlegenen Provinzen zu recherchieren, und aufgrund einiger noch nicht außer Kraft gesetzter Dekrete aus der Marcos–Zeit können Militärs praktisch nicht vor Zivilgerichten belangt werden. Darüber hinaus kann die Kommission selbst keine Fälle vor Gericht bringen, sondern sie kann nur ihre Recherchen dem Justizministerium und der Präsidentin mitteilen - ein langwieriger Prozeß. „Die Kommission selbst hat die Menschenrechtsgruppen gebeten, für eine Änderung zu agitieren“, erzählt Mylene von „Martyrs“, doch verschiedene Treffen mit Aquino wurden von der vielbeschäftigten Präsidentin kurzfristig vertagt, eine schriftliche Reaktion blieb aus. „Es ist sehr schwierig“, sagt Mylene frustiriert, „die Leute glauben hier in Manila, mit Marcos Abgang sei die Sache gegessen. Aber es muß doch mehr geben als Versprechungen, oder?!“